Ein normales Leben führen. Das hört sich so selbstverständlich an. Doch für Vitali, Mariam, Roman, Anastasia und die anderen Kinder und Jugendlichen aus der Ukraine verläuft ihr Leben alles andere als normal. Sie gehen zur Schule, aber nicht in ihren Heimatstädten Kiew, Odessa, Dnipro oder Kharkiv.
Die jungen Ukrainer gehören seit mehreren Monaten zur Schulgemeinschaft des Freiherrn-vom-Stein-Gymnasiums Betzdorf-Kirchen. Und sie gehören tatsächlich schon dazu, wie Direktorin Simone Kraft betont: „Es ist toll, wie sie in die Schulgemeinschaft integriert sind.“ Manche von ihnen sind sogar schon mit auf Klassenfahrten gewesen.
Einen entscheidenden Beitrag zur Integration leistet der Unterricht von Elena Kienolth. Sie unterstützt aktuell zwölf Flüchtlingskinder, die überwiegende Mehrheit kommt aus der Ukraine, beim Erlernen der deutschen Sprache. Die Schule hätte es mit der 44-Jährigen nicht besser antreffen können: Elena Kienolth stammt gebürtig aus Russland, wohnt seit zwölf Jahren in Deutschland, in Kirchen und sie ist Lehrerin für Englisch und Deutsch als Fremdsprache – das sind wahrlich optimale Voraussetzungen.
Sohn motivierte Elena Kienolth
Elena Kienolth hat sich selbst bei der Schule gemeldet. Schuld daran ist ihr Sohn Ben, erzählt sie in der Pause. Denn der Sechstklässler kam eines Tages nach Hause und sagte zu ihr: „Mama, du musst kommen und den Kindern aus der Ukraine helfen.“ Die Kirchenerin brauchte nicht lange zu überlegen. „Ich mag Kinder“, sagt sie. Erst 15 Stunden, seit neuestem 20 Stunden in der Woche, unterrichtet sie auf Vertragsbasis nun Vitali, Mariam, Roman, Anastasia und die anderen Kinder und Jugendlichen, die durch den Krieg ihre Heimat verlassen mussten.
Deren bis dahin normales, unbeschwertes Leben abrupt eine schicksalhafte Wendung genommen hat, aus heiterem Himmel, ohne Vorwarnung. Die jungen Flüchtlinge sind in Klassen ihres Alters integriert, nehmen am normalen Unterricht teil. Doch es ist ebenfalls wichtig, darin sind sich Direktorin und Lehrerin einig, dass die jungen Ukrainer darüber hinaus die Möglichkeit bekommen, intensiv die deutsche Sprache zu lernen – in einem eigenen Klassenverbund. Denn diese Gemeinschaft bietet den Kindern und Jugendlichen zudem die Möglichkeit, sich auch in ihrer Muttersprache zu unterhalten und sich auszutauschen. Denn sie alle teilen das gleiche Schicksal.
Von Normalität kann nicht die Rede sein. „Sie sind traumatisiert“, erzählt Elena Kienolth. Ein liebevoller Umgang sei ihr deshalb besonders wichtig, sagt sie, eine freundliche Atmosphäre, damit die Kinder gerne den Unterricht besuchen und Deutsch lernen. „Dass sie sich wohlfühlen, das ist das wichtigste“, betont die Lehrerin und zweifache Mutter.
Kinder geben aus eigenem Impuls heraus Einblicke
Den Krieg versucht sie vor der Klassentüre zu halten. „Ich frage bewusst nicht nach privaten Dingen, um die Kinder nicht zu verletzen.“ Denn wer weiß, ob die Väter noch leben und wie es Angehörigen und Bekannten in der Heimat geht. Der Krieg soll möglichst draußen bleiben – doch natürlich, sagt die Pädagogin, gelinge dies nicht immer. „Die Kinder erzählen von sich aus, zeigen Fotos“, sagt sie.
Nachmittags können sie im Onlineunterricht Kontakt zu ihren Schulkameraden in der Heimat halten. Doch für einige Stunden gelingt es tatsächlich, den Kindern durch den Schulbesuch im Gymnasium zumindest ein Stück Normalität zu geben – davon ist auch die Lehrerin überzeugt. „Das ist normales Leben, neue Freunde kennen zu lernen, Deutsch zu lernen, sich zu integrieren“, sagt sie und fügt mit Nachdruck hinzu: „Schule ist wichtig.“ Die vergangenen Monate des Unterrichtens, des gemeinsamen Lernens und auch Verarbeitens hätten bei ihren Schülern schon einiges bewirkt. „Sie haben sich entwickelt“, sagt Elena Kienolth und lächelt. Auch im Schulalltag fungiert sie wie eine Art Mentorin für die Kinder, steht ihnen mit Rat und Tat zur Seite.
„Mein Freund Ringo“ – das ist der Titel des Kinderbuches, das die Klasse der ukrainischen Schüler derzeit liest. „Jeden Tag, eine Stunde“, sagt die Lehrerin. Und weil an diesem Vormittag neben der Direktorin auch Besuch da ist, legen Vitali, Mariam, Roman, Anastasia und die anderen die Lektüre im Unterricht bei Seite.
Talente offenbaren sich
Seit einigen Monaten lernen sie Deutsch, manche länger, manche kürzer und es ist beeindruckend, wie sie die Sprache ihrer Heimat auf Zeit schon beherrschen und auch an der Tafel schreiben können. Egal, wer von den Kindern und Jugendlichen, Roman der jüngste elf, Vitali, der älteste, 17 Jahre alt erzählt, die Antworten ähneln sich: „Deutsch lernen und neue Freunde finden.“ So nebenbei erfährt Direktorin Simone Kraft, dass unter den jungen Ukrainern einige Talente schlummern. Anastasia (13) spielt Geige und macht schon im Schulorchester mit.
Musik verbindet, ebenso der Sport. Vitali (17) spielt Fußball bei der Spielgemeinschaft Mudersbach/Brachbach. Auch die WM verfolgt er, Brasilien werde Weltmeister, meint er. Ivan (13) spielt Tischtennis in Friesenhagen. Zum Unterricht gehört ebenfalls gemeinsames Singen und dabei soll auch der Spaß im Vordergrund stehen. So singen die Kinder ein Karnevalslied, in dem sie „stark wie ein Tiger“ sind. Und sie singen ein Lied über Freundschaft und Zusammenhalt, das ihnen Mut und Zuversicht geben soll. Denn irgendwann wünschen sich die ukrainischen Schüler ein normales Leben zurück und das hoffentlich in ihrer Heimat.