Ein Wiedersehen mit dem bekannten Kölner Kabarettisten Jürgen Becker gab es jetzt im Kulturwerk in Wissen – lustig und locker wie immer, aber dennoch auch neu und anders. Anlässlich der Werktage zum 25-jährigen Bestehen der Wissener Eigenart ließen sich rund 200 Zuschauer diese köstliche Begegnung nicht entgehen.
Der Altersdurchschnitt des Publikums passte, denn mit seinem 2024er-Programm „Deine Disco“ spult Becker vorwiegend in die 1970er- und 1980er-Jahre zurück, genauer gesagt zum vorherrschenden Musikgeschmack jener Zeit. Von Heintje bis Pink Floyd, von Mungo Jerry bis zu den Rolling Stones, von Rex Gildo bis James Last, von Heino bis zu Ton Steine Scherben – nicht zuletzt in der Musik zeigten sich damals die vielen verschiedenen Strömungen in der westdeutschen Gesellschaft.

Dabei, auch daran lässt Jürgen Becker keinen Zweifel, beginnt die musikalische Wahrnehmung schon viel früher: im Mutterleib und bei der Geburt. Auf den monatelangen, beruhigenden Herzschlagrhythmus der Mutter folgt der erste Schrei jedes Babys: „Das ist schon Musik; daraus hat sich dann die Oper entwickelt.“ Punktgenau gesteuerte Musikeinspielungen unterstützen Beckers Thesen und Pointen, und nur zu gerne singt der Chor der Zuschauer erstaunlich textsicher mit, wenn der 65-Jährige etwa das Schlaflied „Guten Abend, gute Nacht“ oder den Stones-Hit „Satisfaction“ dirigiert.
Und Jürgen Becker, der vor mehr als 40 Jahren zu den Mitbegründern der Kölner Stunksitzung gehörte, wäre ein schlechter Botschafter seiner Heimatstadt, wenn er in seinem Liederbuch nicht ein eigenes Kapitel für die Rheinmetropole und ihre schier unerschöpfliche Musikszene vorgesehen hätte. Klischees inklusive. Wenn zum Beispiel die Bläck Fööss ihre Hymne auf den Kiez anstimmen, klingt das völlig anders als etwa der rotzige Politrock der Scherben aus Kreuzberg – und das Publikum singt beseelt das melancholische „En unserem Veedel“ und das verbindende „Drink doch eine met“.
Apropos Hymnen: Auch hier kennt sich Jürgen Becker aus. Gekonnt spannt er den Bogen von der blutrünstigen „Marseiilaise“ über die revolutionäre „Internationale“ und die DDR-Hymne bis zu Adenauers späterem Machtwort für die dritte Strophe des Deutschlandliedes.

Das heißt nicht, dass die „Disco“ völlig befreit von aktueller Politik wäre, im Gegenteil. Beckers Positionen zu ausgebeuteten Paketlieferanten, zur AfD oder zu einzelnen Protagonisten wie Trump, Söder und Dobrindt sind zwar scheinbar beiläufig eingefügt, bleiben aber unüberhörbar. Pikiert entdeckt er beispielsweise inmitten der „blühenden Landschaften“ lauter „Pissnelken“. Und im Nahost-Konflikt plädiert er entschieden für eine dauerhaft friedliche Lösung: „Es muss möglich sein, dass Israelis und Palästinenser zivilisiert zusammenleben.“ Auch zum Reizthema „gendern“ hat der vielfach ausgezeichnete Kabarettist etwas zu sagen: „Man sollte es nicht übertreiben. Mer sin all Lück.“
Beim Blick auf die Entwicklung der Instrumente spricht Becker den allermeisten seiner Altersgenossen aus dem Herzen, wenn er die herausragende Stellung der elektrischen Gitarre hervorhebt. Seiner Ansicht nach wäre gesellschaftlich-kultureller Wandel ohne die weltverändernde Kraft der E-Gitarre und die dazugehörige Musik nicht möglich gewesen – von der Hippie-bis zur Friedensbewegung, von Jimi Hendrix bis zu Bots.
„Mer sin all Lück“
Jürgen Becker appellierte in kölscher Mundart für ein friedvolles Miteinander
Vom begeisterten Wissener Publikum verabschiedet sich Jürgen Becker auf dreierlei Wegen: Erstens mit einer Erinnerung an die deutsch-griechische Schlagersängerin Vicky Leandros und ihre Ode an die Lebensfreude (spätestens da schunkelten die ersten Zuschauer), zweitens mit einem live gesungenen Loblied auf die Musik und drittens – wie bei fast allen seinen Soloauftritten – mit drei Kisten Kölsch. Manche der Gäste nutzen diese Einladung gerne für einen kurzen Wortwechsel oder ein spontanes Foto.