Kreis Altenkirchen
Gendefekt führt zu unstillbarem Hunger
Lea (links) mit ihren Schwestern Lisa und Lara. Während die beiden älteren Schwestern gesund zur Welt kamen, stand gleich nach Leas Geburt fest, dass etwas nicht stimmte. Bis aber die endgültige Diagnose „Prader-Willi-Syndrom“ im Raum stand, sollten noch einmal acht Jahre vergehen. Auch wenn es nicht immer leicht ist, haben Lea und ihre Familie gelernt, mit der Krankheit zu leben.

Kreis Altenkirchen - Familie Hermann wohnt in einem schmucken Einfamilienhaus in Mudersbach. Weiße Fenster, bepflanzte Schalen vor der Tür, innen gemütlich und geschmackvoll eingerichtet. Was aber stutzig macht, sind die vielen Schlösser – an den Mülltonnen, an den Küchenschränken und vor allem am Kühlschrank. Mutter Birgit Hermann schaut auf die verriegelte Mülltonne und zuckt leicht die Schultern. „Ohne die Schlösser würde es nicht klappen“, sagt sie. „Lea würde alles essen, was sie findet – auch aus dem Mülleimer.“

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Kreis Altenkirchen – Familie Hermann wohnt in einem schmucken Einfamilienhaus in Mudersbach. Weiße Fenster, bepflanzte Schalen vor der Tür, innen gemütlich und geschmackvoll eingerichtet. Was aber stutzig macht, sind die vielen Schlösser – an den Mülltonnen, an den Küchenschränken und vor allem am Kühlschrank. Mutter Birgit Hermann schaut auf die verriegelte Mülltonne und zuckt leicht die Schultern. „Ohne die Schlösser würde es nicht klappen“, sagt sie. „Lea würde alles essen, was sie findet – auch aus dem Mülleimer.“

Lea ist das dritte Kind der Hermanns, und sie leidet an einem sehr seltenen Gendefekt: dem Prader-Willi-Syndrom. Ein Defekt auf Chromosom 15 ist dafür verantwortlich. Entdeckt haben ihn bereits im Jahre 1956 die beiden Schweizer Ärzte Andrea Prader und Heinrich Willi, nach denen der Gendefekt benannt wurde. Es ist eine Laune der Natur und kann jeden treffen.
Durchschnittlich jedes 15 000ste Neugeborene kommt mit einem Prader-Willi-Syndrom zur Welt. Der Defekt bewirkt eine Veränderung von Prozessen im Zwischenhirn, genauer im Hypothalamus, einer wichtigen Schaltzentrale im menschlichen Organismus, wo nicht nur die Nahrungsaufnahme gesteuert wird, sondern auch Körpertemperatur, Blutdruck, Atmung, Sexual- und Gefühlsverhalten sowie die Schlafrhythmik. Auch das Wachstum regelt der Hypothalamus. Bei Menschen mit dem Prader-Willi-Syndrom funktionieren der Hypothalamus und das neuronale System anders als bei gesunden Menschen. Die Bandbreite dieser Störung ist von Fall zu Fall verschieden, sie kann schwach oder auch sehr stark ausgeprägt sein.
Menschen mit Prader-Willi-Syndrom sind in der Regel kleinwüchsig. Ihre Muskulatur ist insbesondere in den frühen Lebensjahren schwach ausgebildet, weshalb Bewegung für sie anstrengend und ermüdend ist. Das Schlimmste ist aber, dass die Betroffenen nicht wissen, was „satt sein“ bedeutet. Aufgrund der Störung im Hypothalamus empfinden sie kein Sättigungsgefühl, weshalb sie einen schier unstillbaren Appetit haben. „Der Hunger ist das größte Problem, mit allem anderen kann man gut leben“, sagt Mama Birgit. Sie erzählt, wie die Tochter manchmal Muffins in der Hosentasche nach Hause zu schmuggeln versucht oder wie sich nach einem Familienfest schon mal ein Stück Sahnetorte in der Jacke findet.
Leas Hunger führte dazu, dass sie bereits im Grundschulalter bei einer Größe von 1,34 Meter mehr als 54 Kilogramm auf die Waage brachte. „Die Bilder von damals hat Lea alle weggeschmissen, davon will sie nichts mehr wissen“, sagt Birgit Hermann heute. Nichts wissen, lieber verdrängen, das wollte auch sie, als ihre dritte Tochter vor 17 Jahren das Licht der Welt erblickte. „Ich wusste schon bei der Schwangerschaft, dass da irgendwas anders war als bei meinen anderen Töchtern, ich hatte kaum Kindsbewegungen“, erinnert sie sich.
Lea ist elf Tage über dem Termin. Als sie zur Welt kommt – noch über und über mit Käseschmiere bedeckt – bleibt es still im Kreißsaal. Das Neugeborene gibt keinen Laut von sich, es ist schlaff, kann den Kopf nicht drehen, trinkt nicht. „Es war klar, dass etwas nicht stimmt, aber man versucht das zu verdrängen“, sagt Birgit Hermann. Lange verdrängen kann sie die Tatsache aber nicht, dass ihre Tochter sogar zur Nahrungsaufnahme zu schwach ist. „An Stillen war gar nicht zu denken, und mit der Flasche haben wir auch nichts reinbekommen. Sie musste nach Siegen in die Kinderklinik und wurde dort mit der Sonde ernährt.“

Auf 36 mögliche Krankheiten wird Lea getestet, es wird sogar eine Muskel- und Nervenbiopsie gemacht, doch die Ärzte stehen vor einem Rätsel. Nichtsdestotrotz: Auch wenn die Sache keinen Namen hat, die Eltern und Geschwister müssen akzeptieren, das Lea anders ist. „Wir haben mit Therapien angefangen, da war sie gerade mal vier Wochen alt. Wir haben geturnt, nach Vojta.“ Birgit Hermann schaut auf die Galerie mit Familienbildern. „Beim Turnen, das waren die einzigen Zeiten am Tag, wenn man sie mal schreien gehört hat. Sonst hat sie nie einen Laut von sich gegeben.“
Lea entwickelt sich langsam, läuft erst mit anderthalb, fängt erst mit fast vier Jahren an, die ersten Worte zu sprechen, und auch nur, weil die Hermanns die Hilfe einer Logopädin in Anspruch nehmen. Trotz ihrer Hungerattacken und gelegentlichen Wutanfälle ist Lea ein Sonnenschein, „ein aufmerksames und hilfsbereites Kind“.
Mit sechs kommt sie in Weidenau auf eine Sprachheilschule, die Defizite beim Lernen machen aber einen Wechsel auf eine Förderschule notwendig. Noch immer wissen die Hermanns nicht, was ihrem Kind fehlt. Erst ein neuer Arzt an der Siegener Kinderklinik kam dem Rätsel um Lea auf die Spur.
„Er hatte von PWS in Essen an einer Klinik gehört. Weil sich hier aber keiner mit diesem Defekt auskannte, wurden wir an eine Spezialistin aus Hildesheim verwiesen.“ Lea war da schon fast neun Jahre alt. Von der Ärztin und aus dem Internet erfahren die Hermanns nun, was ihrem Kind fehlt. Sie erfahren aber auch, dass es keine Heilung gibt, keine Medikamente, das Lea niemals ein selbstbestimmtes Leben wird führen können. „Das ist schon ein schlimmer Schlag, wenn einem das bewusst wird“, sagt die dreifache Mutter. Dank der Ärztin wissen sie nun aber auch, wie wichtig eine strikte Diät ist, dazu viel Bewegung und ein streng getakteter Tagesablauf. Lea muss nun mit 1100 Kalorien am Tag auskommen. „10 Gramm Wurst oder Käse, dazu 150 Gramm Salat oder Gemüse, einmal die Woche 150 Gramm Reis oder Nudeln, das war schon hart – für uns alle“, sagt Birgit Hermann. Auch für die Schwestern heißt das früh Verzicht auf Nutella und Co. Doch auch damit lernen alle fünf umzugehen.

Die Hermanns haben Lea angenommen, wie sie ist. Der Umwelt fällt das schwerer. „Lea hat kaum soziale Kontakte, bis heute nicht. Und auch die Großeltern hatten große Schwierigkeiten damit, dass es eben nicht in Ordnung war, Lea mal eine Tafel Schokolade zuzuschieben oder noch ein Stück Kuchen auf den Teller zu laden.“
Mit viel Geduld, Sport, dem Diätplan und den Schlössern an allem, was Essbares bergen kann, hat Lea heute ein gutes Gewicht erreicht. Sie geht auf eine Ganztagsschule, nachmittags verbringt sie die Zeit mit der Mutter oder ihren Schwestern. Was später mal kommt, das weiß Birgit Hermann nicht. „Es gibt nur sehr wenige Einrichtungen deutschlandweit für Menschen mit PWS, dafür kämpfen wir auch mit unserer Selbsthilfegruppe.“
Schön wäre es für die Familie, wenn Lea in eine heimatnahe Einrichtung käme, wo sie arbeiten und leben und Freunde finden kann und wo die Mitarbeiter verstehen, wie wichtig es ist, den Hunger zu zügeln. „Auf ein Medikament zu hoffen, ist illusorisch. Mit ein paar Tausend Betroffenen sind wir nicht lukrativ genug für die Pharmafirmen.“ Aber die Wohngruppe, das ist eine Perspektive. Dafür kämpfen die Hermanns und werden auch nicht aufgeben – wie auch damals nicht, als klar war, dass ihr Leben anders verlaufen würde mit einem Kind wie Lea. Anders, aber dennoch erfüllt und reich. Sonja Roos

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