Die Ukrainerin Marina Lahutina kam im Mai 2022 nach Deutschland. Die Bomben und der Krieg in ihrer Heimat zwangen sie dazu. Doch dieser Krieg begann für sie persönlich bereits vor mehr als zehn Jahren. In ihrer Heimatstadt Luhansk. Einer Großstadt mit mehr als 400.000 Einwohnern im Osten des Landes in unmittelbarer Nähe zu Russland. Als Putin seinen Krieg gegen die Ukraine begann.
Alles in allem hatte ich ein wirklich tolles Leben.
Marina Lahutina
„Ich glaube nicht, dass meine Geschichte in diesem Krieg in irgendeiner Weise einzigartig ist. Das Einzige, was sie besonders macht, ist, dass sie nicht vor zwei, sondern vor zehn Jahren begann.“ Diese Worte hatte Lahutina, die mittlerweile in Wissen wohnt, aufgeschrieben, um sie zum zweiten Jahrestag des großen russischen Angriffskrieges, am 24. Februar 2024, bei einer Veranstaltung in Hamm vorzulesen. Doch da stockte ihre Stimme. Zu nah gingen ihr ihre Erfahrungen. Erfahrungen von Ungewissheit, Angst, Flucht.
Im Jahr 2014 ist Lahutinas Welt noch in Ordnung. Sie ist 30 Jahre alt, hat einen guten Job in Luhansk, eine glänzende Karriere, Hobbys und ehrenamtliche Arbeit in Wohltätigkeitsorganisationen. Sie hat gute Freunde, Pläne und Träume für die Zukunft. „Alles in allem hatte ich ein wirklich tolles Leben“, schreibt sie.
Doch dann sei das Unmögliche geschehen. Es habe mit ständigem Artilleriebeschuss begonnen. „Der Krieg begann“, erinnert sich Lahutina. „Ich werde nie in Worte fassen können, welche Angst und Hilflosigkeit aufkommt, wenn man diese Schüsse hört. Das Leben bereitet einen nicht auf solche Dinge vor.“ Und erst recht nicht darauf, was zu tun ist, wenn Krieg ist. „Ich habe große Angst, aber gleichzeitig weiß ich nicht, wie ich mir in dieser Situation helfen kann und wer mir helfen kann“, erinnert sich Lahutina an die ersten Wochen und Monate des Krieges zurück.
Luhansk wird besetzt. Es herrscht nachts Ausgangssperre. „Ich habe damals im Stadtzentrum gelebt, wo es Verwaltungsgebäude gibt, die von bewaffneten Menschen beschlagnahmt wurden“, schreibt die Ukrainerin. Jeden Tag ging sie zur Arbeit und wieder nach Hause, „vorbei an Monstern mit Maschinengewehren“. „Jedes Mal hatte ich Todesangst, dass sie anfangen würden, auf mich zu schießen. Ich weiß nicht, was in ihren Köpfen vorgeht und warum sie glauben, dass sie ein Recht darauf haben. Sie haben Waffen in der Hand und denken, sie seien die Herren der Stadt“, beschreibt Lahutina den neuen Alltag in Luhansk.
Wären wir, die Bankangestellten, geflohen, hätten weder Geldautomaten noch Filialen mehr funktionieren können. Und unsere Kunden wären nicht in der Lage gewesen, ihr Geld abzuheben.
Marina Lahutina
Einige Wochen hält sie es noch in der Stadt aus, denn sie trägt durchaus Verantwortung. Sie und weitere Kollegen leiten die Arbeit von 22 Bankfilialen in der Region. „Das Leben von Tausenden unserer Kunden hing von unserer Arbeit ab“, beschreibt Lahutina ihren damaligen Berufsalltag. „Wären wir, die Bankangestellten, geflohen, hätten weder Geldautomaten noch Filialen mehr funktionieren können. Und unsere Kunden wären nicht in der Lage gewesen, ihr Geld abzuheben.“ Die Menschen in dieser Situation ohne Geld zurückzulassen, wäre wie ein Todesurteil, schreibt Lahutina. Viele hatten die Stadt bereits verlassen. Doch die noch Dagebliebenen brauchten ja Geld, um sich Fahrkarten, Benzin, Lebensmittel und Medikamente zu kaufen.
Diese schwierige Zeit beschreibt Lahutina so: „Ich hatte große Angst. Es ist nicht das erste Mal, dass ich heute in diesen wenigen Minuten von Angst spreche, aber es ist nur ein Wort. Ich erlebte die Art von Angst, die unmöglich zu vermitteln ist, egal wie oft ich das Wort sage. Ich bin nur ein 30-jähriges Mädchen, das sich wünscht, dass jemand sie aus dieser Hölle rettet. Aber gleichzeitig bin ich eine Führungskraft, auf deren Arbeit die Menschen angewiesen sind. Und ich bleibe und arbeite weiter.“
Im Juni 2014 flüchtet sie dann doch aus der Stadt. Das Leben wird dort immer beschwerlicher. Die Stadt ist bereits ohne Licht, Mobiltelefon und Internet. „In der Bank arbeiteten wir mithilfe von Benzin-Generatoren“, erinnert sich Lahutina. Zu Hause habe man nur bei Kerzenlicht sitzen können und den Geräuschen von Explosionen und Schüssen gelauscht, Tee aus der Thermoskanne getrunken, mit gekochtem Wasser von der Arbeit. In den Wohnungen gab es keinen Strom mehr. „Ich bin zwar nicht religiös, aber damals habe ich sehr viel gebetet“, so Lahutina.
Im Juni 2014 dann wieder ein Angriff auf die Stadt. Diesmal im Zentrum. In der Straße, in der Marina Lahutina arbeitet, werden die meisten Gebäude über Nacht zu Ruinen. Die Stadtverwaltung gibt die Stadt auf und erlaubt den Bewohnern zu fliehen. Vielleicht gerade noch rechtzeitig. Denn in der Nacht vor ihrer Abreise wird das Zentrum schwer beschossen. Lahutina versteckt sich im Badezimmer, das sie für den sichersten Ort im Haus hielt. Sollten Raketen ihren Wohnblock treffen, wäre das womöglich ihr Ende gewesen. „Ich wohnte im 15. Stock eines 15-stöckigen Gebäudes. Wenn das Haus eingestürzt wäre, hätte ich es nicht aus den Trümmern geschafft.“
Es war kein einziger Mensch in der Nähe, nur ein unbekannter, verängstigter Hund begleitete mich.
Marina Lahutina
Also entschloss sie sich nachts in einen anderen Stadtteil zu retten, in dem es keinen Beschuss gab. So spät in der Nacht noch unterwegs zu sein, war nicht ungefährlich. Herrschte doch eine strikte Ausgangssperre ab 21 Uhr. „Zu dieser Zeit konnten die Angreifer ohne Vorwarnung auf eine Person auf der Straße schießen. Aber ich beschloss, trotzdem rauszugehen“, erzählt Lahutina.
Drei Stunden lang geht sie allein durch die Nacht. Mit ihrem „Alarmrucksack“. Darin ist alles, was sie zum Überleben für ein paar Tage brauchen würde. „Es war kein einziger Mensch in der Nähe, nur ein unbekannter, verängstigter Hund begleitete mich. Vielleicht war auch er auf der Suche nach jemandem, der wusste, wie er sich retten konnte.“ Lahutina läuft an zerstörten Gebäuden vorbei, an einer brennenden Tankstelle. Es sind Schüsse zu hören.
Dann wird sie schwer krank
Für die kommenden sechs Jahre sollte Dnipro ihre neue Heimat werden. Die Stadt am gleichnamigen Fluss in der Mitte der Ukraine ist von Einwohnerzahl und Größe in etwa mit Köln vergleichbar. Dort angekommen, wird Lahutina erstmal sehr krank. Zu stark haben die Wochen und Monate davor an ihren Kräften gezehrt. Nach sechs Monaten kommen noch Panikattacken hinzu. „Mir wurde klar, dass ich in Sicherheit war, in einer Stadt, in der ich nichts bedrohte, aber ich konnte mich nicht dazu durchringen, das Haus zu verlassen. Ich hatte furchtbare Angst, wie wenn ich dachte, ich würde sterben. Ich war nicht in Gefahr, aber ich hatte Angst.“ Ein Jahr kämpft Lahutina mit Panikattacken, Angstzuständen und Depressionen und braucht all ihre Ersparnisse auf.
Drei Jahre später – ihr geht es mittlerweile wieder gut – merkt sie, dass sie nur mit halber Kraft lebt. Sie arbeitet für Organisationen, die Flüchtlingen wie ihr helfen. „Ich weiß nicht, wer ich bin. Ich habe einen Flüchtlingsstatus. Und in diesem Status spüre ich den Boden unter meinen Füßen nicht, ich entwickle mich nicht, ich strebe nicht nach der Zukunft. Ich bin wie ein Ballon, der an einem Ort bleibt. Ein Ballon, der nicht weiß, in welche Richtung er gehen soll“, schreibt Marina Lahutina.
Es gab dort nichts mehr, was mir lieb und teuer war.
Marina Lahutina
Das Heimweh ist zu groß. Sie kehrt wieder zurück nach Luhansk. Doch bei ihrer Ankunft muss sie feststellen, dass ihre Heimatstadt, so wie sie sie kannte, nicht mehr existiert. „Sie scheint an der gleichen Stelle zu stehen, aber sie ist nicht mehr da. Es gab dort nichts mehr, was mir lieb und teuer war. Mein Zuhause, mein Job, meine Freunde“, beschreibt Lahutina ihre Gefühle. Doch die Rückkehr hat auch etwas Positives. Sie hilft ihr, einen Schlussstrich zu ziehen: „Ich war kein Flüchtling mehr, ich träume nicht mehr davon, nach Hause zu gehen. Ich bin ein Mensch, der sein Leben in Dnipro von Grund auf neu aufbaut.“
Im Jahr 2022 lebt Lahutina in einem Vorort von Kiew, hat Arbeit in der ukrainischen Hauptstadt. Sie hat sich wieder ein wunderbares Leben aufgebaut.
Bis zum 24. Februar. Als der Krieg für sie ein zweites Mal begann. An einem Ort, an dem sie sich eigentlich sicher fühlte.
Manchmal schämt sie sich, sagt sie
Wie 2014 in Luhansk war eine Flucht nicht auf der Stelle möglich. „Ich kämpfte mit Angst und Verantwortung.“ Sie arbeitet in einer staatlichen Bank als Kreditanalystin. Für sie und ihre Mitarbeiter galt es gerade, die Aussaat zu finanzieren und die Landwirte bei ihrer Arbeit zu unterstützen. „Ich saß im Keller und arbeitete zwölf Stunden lang und trag Entscheidungen im Wert von Millionen von Griwna.“ Manchmal schäme sie sich, dass sie weggelaufen ist. „Aber ich erinnere mich daran, dass ich drei Monate lang trotz meiner Arbeit alles getan habe, was ich konnte, um meinem Land zu helfen“, schreibt Lahutina.
Am 28. Mai, einem Samstag, ist es dann so weit. Lahutina sitzt wie so oft im Keller. „Beim Klang der Sirenen wurde mir klar, dass ich so nicht weitermachen konnte. Ich mochte in Sicherheit sein.“ So packt sie wieder ihren Rucksack und macht sich auf – diesmal nach Deutschland.
Es gibt Millionen von Menschen wie mich.
Marina Lahutina
Dort fühlt sie sich endlich sicher. Und sie sei dafür Deutschland auf ewig dankbar, wie sie betont. „Ich bin Deutschland und jedem einzelnen Menschen persönlich dankbar für die offenen Herzen und alle die Hilfe, die wir erhalten haben“, schreibt Lahutina zum Schluss.
Zuletzt ist Lahutina noch eines besonders wichtig. Diese Geschichte – ihre Geschichte – ist nur eine von Tausenden. „Es gibt Millionen von Menschen wie mich“, schreibt sie. Die UNO-Flüchtlingshilfe schreibt, dass 6,5 Millionen Menschen aus der Ukraine Zuflucht im Ausland gefunden haben, davon leben sechs Millionen Menschen in europäischen Staaten als Flüchtling. „Ein Vertriebener, ein Flüchtling – das ist ein allgemeiner Begriff, hinter dem sich Menschen verbergen.“