Damit befindet sie sich in bester Gesellschaft mit vielen anderen Lokalen, denn die Kreisstadt hatte einst in Sachen Gastronomie richtig was zu bieten. Wem nach einem Feierabend-Bierchen oder einem Schnäpschen war, der wurde allein nach dem Zweiten Weltkrieg in 23 Gaststätten und Kneipen fündig. Ein Exkurs in die Vergangenheit lohnt sich also. Allerdings würde es den Rahmen sprengen, wollte man allen gerecht werden. Im Fokus dieser historischen RZ-Kneipentour stehen deshalb drei echte Platzhirsche – „der Hirz“ nahe der katholischen Kirche, der „Eckschank“ in der Wilhelmstraße und die „Brückenschänke“ am Quengel.
Als idealer „Reiseleiter“ erweist sich hierbei Detlev Ludwig aus Fluterschen, ein passionierter Heimatforscher, der ebenso wie Klaus Heyer und Ludwig Schneider seine Kindheit in der Innenstadt verbracht hat. Die „drei Musketiere der Stadtgeschichte“ freuen sich, dass sie die Erinnerungen der Altenkirchenerinnen Isolde Spahr und Margret Szepansky archivieren durften.
Den Anfang unserer Tour macht „der Hirz“, dessen Gaststube sich noch 2020 genauso darstellte wie in den 1950er-Jahren. Der Einrichtungsstil der Geschwister Elsbeth und Hans Hirz war zweckmäßig – ein Schankraum ohne Gedöns, eine Theke und eine dahinterliegende Küche, in der Elsbeth Hirz Soleier, Frikadellen, Gulaschsuppe und belegte Brote anfertigte und diese Snacks per Durchreiche in den Gastraum lieferte. Hier stand ihr Bruder Hans tagein, tagaus am Zapfhahn, um die Gäste (darunter Generationen von Altenkirchener Abiturienten!) mit seinem legendären „7-Minuten-Bier“ zu versorgen.
Erstmals erwähnt wurde die Gaststätte Mitte der 1930er-Jahre. Damals gehörte auch eine Tankstelle zum Gebäude. Im Krieg wurde beides zerstört, das Haus später aber wieder aufgebaut. 1994 endete die Gastwirt-Ära der Geschwister Hirz, nicht aber die Geschichte des Hauses. Bis zu ihrem Tod 2020 bewohnte Elsbeth Hirz die Räumlichkeiten im hinteren Bereich, während der Gastraum unverändert blieb. „Wenn man Elsbeth Hirz in den letzten Jahren besuchte und sich dann verabschiedete, sagte sie ,Jetzt habe ich Ihnen nichts zu trinken gegeben. Sie hätten es bei mir bestellen müssen!‘“, erinnert sich Detlev Ludwig und schmunzelt.
Weiter geht es zum „Eckschank“ an der Ecke Wilhelmstraße/Mühlengasse (heute Büro- und Geschäftsgebäude zwischen Spielwaren Flemmer und Foto Schäfer), der von der Familie Fritz und Else Weißgerber betrieben wurde und durch seine exponierte Lage in der Haupteinkaufsstraße regelrecht ortsbildprägende Funktion hatte. Hier trafen sich die „Alekärjer“ Handwerker und Geschäftsleute, darunter die Bäcker, die Dachdecker, die Maler, die Lebensmittelhändler und die Inhaber der Bekleidungs- und Schuhgeschäfte. Auch die Landwirte aus der Umgebung kehrten beim „Eckschank“ ein, wenn sie ihre Pferde und später ihre Traktoren zur nahe gelegenen Schmiede Pauly brachten.
Weitere Kundschaft garantierte die nur 50 Meter entfernte „Mühle Hassel“. „Jeder wurde durch den Kakao gezogen, und es wurde gelogen, dass sich die Balken bogen“, scherzt Detlev Ludwig. „Man traf sich zum Bier, aber auch zum Schützenfest. Die Menschen waren füreinander da, und man konnte sich aufeinander verlassen.“
Ludwig kramt beim RZ-Gespräch kuriose und teils pikante Geschichten rund um die Kneipe hervor, natürlich alle „op Platt“ und unter Verwendung der typischen Altenkirchener Spitznamen, denen früher niemand entkam. Beispiel gefällig? „September 1959. Vier Wochen nach dem verheerenden Brand in der Mühle Hassel treffen sich Otto Spahr, ,de Lack', ,de Kottmann' und ,de Birkenbeuls Fridda' im ,Eckschank' beim Bier. Se ziehen ma widder üwwer de Leut her. Nach einer Weile des Schweigens steht de Otto off un söt ,Komm, los us heimgoohn.' – ,Worüm dann?' – ,Wie, worüm? Ganz enfach, et is keen Müll mie aanzustechen!'“
Mitte der 1970er-Jahre musste die mehr als 90 Jahre alte Gastwirtschaft schließlich dem Bau der „Bank 2000“ weichen. Den krönenden Abschluss bildet die älteste Kneipe dieser Trilogie, die „Brückenschänke“, die am unteren Ende der Wilhelmstraße direkt am Quengelbach lag und bereits 1888 als „Bierhandel Grabert“ bekannt war. „In den 1930er-Jahren war der Besitzer Hans Hamann, der den Betrieb dann in den 1960er-Jahren an Adelheid Gründler übergab“, berichtet Detlev Ludwig. „Die Brückenschänke war mit dem Union-Kino der Familie Quabach verbunden, dessen Filmvorführer Artur Schäfer aus Helmenzen gerne sein Bier in der Kneipe holte, wenn der Film lief. Oft holten wir als Jugendliche das Bier, und wenn Artur dann genug getrunken hatte, dann durften wir durch die Luke den Film gucken.“ Die Schänke, in der sich traditionell die Fußballer der Stadt trafen, sei immer sehr gut besucht gewesen. „Es war eine andere Klientel als im ,Eckschank'. Die ,Brückenschänke' war eher die Kneipe, in die die Jüngeren gingen.“
Und noch ein anderes Erlebnis verbindet Detlev Ludwig mit dem Lokal. „In den 1950/1960er-Jahren war die Straße kaum befahren, sodass die Kinder und Jugendlichen im Winter von der Stadthalle bis zur Brückenschänke Schlittenfahren konnten.“ 1977/78 wurde im Rahmen des Baus der innerstädtischen Umgehung auch diese Altenkirchener Lokalität abgerissen. Ein großer Verlust, denn gerade gut laufende Kneipen wie die „Brückenschänke“ mit ihrer idyllischen Lage am Bachlauf wären erhaltenswert gewesen.
Diese Einschätzung teilen übrigens etliche ältere Altenkirchener Bürger. Sie erinnern sich rückblickend an schwere Kriegs- und Krisenjahre, in denen das Ausgehen ein seltenes Vergnügen war, aber auch an den Zusammenhalt unter Freunden und Bekannten und an gesellige Runden, die alles erträglicher machten.
Viel gäbe es noch zu erzählen über die örtliche Kneipenszene mit ihren berüchtigten Stammtischen, ihren tüchtigen Wirtsleuten, ihren Festen, Feiern und Schicksalsschlägen. Schade, aber auf Lokalitäten wie den „Nassauer Hof“, den „Gasthof zur Krone“, die „Gastwirtschaft Hörder“, das Gasthaus „Zum Falken“ und all die anderen deutet im Stadtgebiet heute nichts mehr hin. Sie fielen der Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zum Opfer, mussten der innerstädtischen Umstrukturierung weichen oder konnten sich wirtschaftlich einfach nicht mehr halten. Und wenn das besagte unscheinbare, mausgraue Gasthaus in der Rathausstraße irgendwann umgenutzt wird, dann ist auch „der Hirz“ nur noch eine schöne Erinnerung.
Julia Hilgeroth-Buchner