Eine spannende Recherche des Derscheners Volker Rosenkranz schildert das traurige Schicksal der "Backesnelly" und ihrer Kinder
Ab 1943 spurlos verschwunden: Das traurige Schicksal der „Backesnelly“ von Nisterberg
Die „Backesnelly“ Walburga Lind mit ihrem Ehemann und ihren Kindern 1935 unterwegs in Herdorf.
Archiv AK Heimatgeschichte Daade

Seit Jahren befasst sich Volker Rosenkranz mit der regionalen Heimatgeschichte. Doch eine seiner jüngsten Recherchen, die Eingang im „Daadetaler Geschichtsbrief“ gefunden hat, hat den Derschener wie kaum eine andere zuvor beschäftigt. Es geht um die Geschichte einer Frau, einer Sinti und Roma, und ihrer vier Kinder. Im Volksmund wurde die Frau nur „Backesnelly“ genannt. Sie lebte in Nisterberg, war aber in der ganzen Umgebung bekannt. Nicht bekannt war bis vor Kurzem ihr trauriges Schicksal im Dritten Reich. Über dieses Schicksal und seine spannenden Nachforschungen berichtet Rosenkranz in der RZ:

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Den Anstoß für die Recherchen gaben Aufzeichnungen, die der heute in Krefeld lebende Nisterberger Klaus Textor dem Daadener Arbeitskreis Heimatgeschichte überlassen hat. Diese beschäftigen sich mit dem Aufenthalt der „Backesnelly“ in Nisterberg: Das sogenannte „Nelly-Häuschen“ gehörte Lebrecht Friedrich Held (Rufname Schells), geboren 1873 in Nisterberg. Lebrecht war nach Daaden verheiratet, hatte aber noch Ländereien in Nisterberg. Um einen Unterstand bei der Feldarbeit zu haben, hatte er sich das Häuschen gebaut. Während der Nazi-Zeit wurde darin eine „Zigeunerfamilie“ mit Mann, Frau (Nelly) und zwei oder drei Kindern aufgenommen. Zigeuner darf man heute nicht mehr sagen; sie gehörten zur Völkergruppe der Sinti und Roma.

Die Gestapo „holt“ den Ehemann

Eines Tages wurde der Mann von der Geheimen Staatspolizei abgeholt. Jeder im Dorf wusste, was das bedeutete. Gustav Buchner, damals Gendarmeriewachtmeister im Amt Daaden, hatte die Aufgabe, der Frau zu sagen, dass ihr Mann verstorben sei und gleichzeitig die ihm zugesandten Sachen, eine Geldbörse und eine Uhr, zu übergeben. Als Nelly wieder einmal ins Dorf kam, um für ihre Kinder Milch und andere Nahrungsmittel zu holen, ließ er sie in sein Haus rufen und händigte ihr die Sachen aus. Buchner sagte danach zu seiner Frau Anna: „Der Mann wurde gestorben.“ Buchner ließ Nelly noch den Rat zukommen, sie solle mit ihren Kindern sicherheitshalber verschwinden. Dies geschah auch. Man hat von der Familie nie mehr etwas gehört.

Dabei war die „Backesnelly“ Ende der 1930er-Jahre bis 1942 im Daadener Land und darüber hinaus wohlbekannt, wenn sie notgedrungen von Dorf zu Dorf ging und Lebensmittel und Milch für die Kinder erbat. Nach Augenzeugenberichten war sie dabei nie unangenehm oder aufdringlich. Luise Pfeiffer, geborene Pauschert, aus Derschen (Jahrgang 1926) kann sich noch erinnern, dass sich die „Alten“ sogar anerkennend äußerten, „dass eine Frau aus unseren Reihen es kaum fertig bringen würde, vier kleine Kinder in dieser harten Zeit ohne Ehemann durchzubringen“. Nelly hielt sich gerne im Derschener Backes in der Schmiedengasse auf; hier war es nach dem Backen einige Tage lang warm, und der Derscher Bach floss vorbei, in dem man sich und die Kleidung waschen konnte. Die Familie wurde jedoch auch im Siegerland, im Raum Morsbach und in Herdorf gesehen, und es war klar, dass es fast überall besser war als im „Nelly-Häuschen“ mit einem Raum ohne Heizung und Wasser. Allerdings gingen die drei ältesten Kinder in Nisterberg zur Schule.

„Backesnelly“ bis heute ein Begriff

Die „Backesnelly“ hat sogar Eingang in den Sprachschatz des Daadener Landes gefunden: Wenn sich eine Frau heute unvorteilhaft gekleidet hat, heißt es: „Dau säust aus wie det Backesnelly.“ Die Familie blieb der hiesigen Bevölkerung so gut in Erinnerung, dass es in den 1950er-Jahren Fußgruppen beim Rosenmontagszug in Herdorf gab, die die Familie nachstellten; bei einem Dorffest in Wilnsdorf-Obersdorf und noch 1974 beim Festzug zur 650-Jahr-Feier in Friedewald wurde die „Backesnelly“ mit ihren Kindern dargestellt.

Es wunderte aber letztendlich niemand in Nisterberg, dass Nelly mit ihren vier Kindern ab Anfang 1943 nicht mehr gesehen wurde. An dieser Stelle endet der unterhaltsame Teil dieser Geschichte. Nachdem wir uns im Arbeitskreis intensiv mit dieser Familie beschäftigt hatten und mit Augenzeugen, etwa mit Schulkameraden der Kinder in Nisterberg, gesprochen hatten, ließen mir diese Geschichte und das Verschwinden der Mutter mit ihren Kindern keine Ruhe. Wo waren sie abgeblieben? Was war mit ihnen geschehen?

So suchte ich alle bekannten Quellen ab und stieß bei „Google Books“ auf ein Buch von Karola Fings und Frank Sparing mit dem Titel „Rassismus, Lager, Völkermord – die nationalsozialistische Zigeunerverfolgung in Köln“. Hier fand ich unter dem Suchbegriff „Nisterberg“ einen Artikel über die Umsetzung des Erlasses des Reichserziehungsministeriums vom 22. März 1941 über die Ausgrenzung von schulpflichtigen „Zigeunerkindern“, mit der Besonderheit, dass dieser Erlass – im Gegensatz zu anderen Regionen – von der zuständigen Kriminalpolizeistelle in Koblenz strikt umgesetzt wurde. Die Autoren schreiben dazu: „Der Anstoß, drei Kinder von der Volksschule in Nisterberg zu verweisen, ging dabei von ihrem Klassenlehrer aus. Er schaltete im Dezember 1942 die Ortspolizeibehörde ein, um ‚im Interesse des gesamten Schulbetriebs‘ die Kinder, deren Vater im KZ Dachau verstorben war, wegen ‚Unsauberkeit, Unordnung und Unpünktlichkeit‘ auszuschließen.“

Amtsbürgermeister schreitet zur Tat

In einem Beitrag für einen Band der Bundeszentrale für politische Bildung berichtet Autorin Fings ebenfalls über die Familie in Nisterberg – unter anderem auch deshalb, weil alle ermordet wurden und die Verfolgung nicht ohne Zutun der örtlichen Bevölkerung stattfand: „Einen Tag vor Heiligabend, am 23. Dezember 1942, wandte sich ein Volksschullehrer aus dem rheinland-pfälzischen Örtchen Nisterberg an das zuständige Bürgermeisteramt in Daaden an der Sieg. Er bat um die ‚Ausschulung von Zigeunerkindern wegen Gefährdung der Gesundheit und der Schulzucht der übrigen Schulkinder‘. Kurz nach den Feiertagen, am 28. Dezember, schrieb der Amtsbürgermeister an Walburga Lind, die Mutter der betreffenden Kinder, einen knapp abgefassten Brief: ‚Aus gegebener Veranlassung werden Ihre Kinder Johannes, Selma und Rosa Lind mit sofortiger Wirkung aus der Volksschule in Nisterberg verwiesen.‘“

Der Verweis der Kinder von der Schule schien dem Amtsbürgermeister aber nicht ausreichend zu sein. Im neuen Jahr meldete er Walburga Lind mit ihren insgesamt vier Kindern Johannes (geb. 1931), Selma (geb. 1933), Rosa (geb. 1935) und Luzia (geb. 1937) der Kriminalpolizeistelle in Koblenz und regte an, die „Frau Lind in ein Arbeitserziehungs- oder dergleichen Lager“ sowie „die Kinder in ein entsprechendes Heim“ einzuweisen. Die Kripo in Koblenz wurde hellhörig, denn bislang lag dort kein Material über die „Zigeunerfamilie“ vor. Es erfolgte eine Rücksprache mit der übergeordneten Kriminalpolizeistelle Köln. Zwei Monate später, am 10. März 1943, kündigte die Koblenzer Kripo der Kommandantur des Konzentrationslagers Auschwitz einen „Transport Zigeuner von 149 Personen: 40 Männer, 44 Frauen und 65 Kinder“ an. Unter ihnen befand sich die Familie Lind. Alle Familienmitglieder starben dort binnen weniger Monate: Luzia am 22. Juli, Rosa am 9. November, Selma am 25. November, Johannes am 2. Dezember und Walburga Lind am 18. Dezember 1943.

Die Geschichte der Familie Lind zählt zu den vielen Hundert noch nicht erzählten Geschichten des Völkermordes an den Sinti und Roma. Soweit sich aus den wenigen vorhandenen Schriftstücken rekonstruieren lässt, lebte Frau Lind mit ihrem Mann Adam im Westerwald, bis dieser vermutlich 1938 in das KZ Dachau verschleppt wurde. Nach der Verhaftung des Mannes musste Walburga Lind mit den Kindern auf Veranlassung des Landesfürsorgeverbandes in ein kleines, lediglich aus einem Raum bestehendes und außerhalb des Ortes Nisterberg gelegenes Häuschen ziehen. Ab Oktober 1939 durfte sie – wie alle anderen Sinti und Roma im Deutschen Reich auch – ihren Wohnort nicht mehr verlassen.

Bereitwillige Akteure des Regimes

Am 16. April 1942 verstarb ihr Mann in Dachau. „Dies dürfte für den damaligen Daadener Amtsbürgermeister der Anlass gewesen sein, sich darum zu bemühen, die nun auf längere Sicht auf staatliche Unterstützung angewiesene Familie aus seinem Zuständigkeitsbereich zu vertreiben“, heißt es in dem Beitrag von Karola Fings. Und weiter: „Der Lehrer, der Bürgermeister, die Fürsorgebehörde, die Kriminalbeamten: Sie alle handelten auf eigene Initiative. Sie beteiligten sich an einem Prozess der Stigmatisierung, Ausgrenzung und Isolation, der für eine als ,Zigeuner' erfasste Frau und ihre vier Kinder im nationalsozialistischen Deutschen Reich ab 1943 den Tod in Auschwitz bedeutete. Das Beispiel soll illustrieren, dass der Völkermord an den Sinti und Roma kein abstraktes Geschehen war. Deutlich wird die Schutzlosigkeit der Opfer, die über Jahre an den Rand der Gesellschaft gedrängt und jeden sozialen wie wirtschaftlichen Rückhaltes beraubt wurden. Auch wird deutlich, dass der Völkermord an den Sinti und Roma – wie der Völkermord an der jüdischen Bevölkerung – nicht allein ein staatlich dirigiertes, von oben verordnetes Programm war, sondern ein Prozess, den viele Akteure in der Gesellschaft ausgestalteten und vorantrieben. Lokale Vorstöße und zentrale Initiativen griffen ineinander, verstärkten sich gegenseitig und erreichten unter dem Vorzeichen des Krieges seit dem 1. September 1939 schließlich eine europäische Dimension.“

Lehrer unterrichtet auch nach 1945

Aufgrund dieser Informationen konnte ich im Landeshauptarchiv in Koblenz weitere Akten zur Familie Lind einsehen, und auch die Frage nach den Namen der beteiligten Personen konnte dort beantwortet werden: Der betroffene Lehrer war der am 18. Dezember 1896 in Betzdorf geborene Karl Bernhard Holderer, der zum 1. April 1942 von Emmerzhausen an die Volksschule nach Nisterberg versetzt wurde. Er war dort tätig bis zum 11. März 1945 und nach seiner Entnazifizierung wieder vom 27. November 1945 bis zum 30. Juni 1946. Danach ließ er sich nach Monzingen im Kreis Bad Kreuznach, unweit des Heimatortes seiner Ehefrau, versetzen und arbeitete dort ungeschoren weiter als Volksschullehrer bis zu seiner Pensionierung am 31. Dezember 1955.

Die Bereinigungskommission zur Entnazifizierung beschloss am 31. Januar 1947 eine Kürzung seiner Bezüge um 20 Prozent für drei Jahre und eine Versetzung an eine andere Schule. Das Monatsgehalt Holderers betrug nach dieser Kürzung 353,94 Reichsmark netto. Holderer hatte mehrere Disziplinarmaßnahmen gegen seine Person zu verzeichnen, und Nisterberg war der zehnte (!) Dienstort in seiner Tätigkeit als Lehrer.

Amtsbürgermeister Wilhelm Clemens führte die Verwaltung in Daaden vom 1. November 1936 an bis zum Kriegsende, unterbrochen durch Kriegsdienst und Kriegsgefangenschaft. Clemens wurde 1901 in Lobscheid bei Gummersbach geboren. Hier trat er auch seine erste Verwaltungsstelle an, bis er 1925 an die Kreisverwaltung nach Bad Wildungen berufen wurde und von dort nach Daaden kam. Nach einem Bericht der Rhein-Zeitung vom 3. Dezember 1988 anlässlich der diamantenen Hochzeit von Clemens in Bad Wildungen hatte er sich 1943 „wegen seiner korrekten Amtsführung“ mit der NS-Parteileitung überworfen.

Hier der exakte Wortlaut des Briefes von Dorflehrer Holderer an Amtsbürgermeister Clemens: „Nisterberg, den 23.12.1942. An das Bürgermeisteramt, Abt. Polizeiverwaltung, Daaden; Betrifft: Ausschulung von Zigeunerkindern wegen Gefährdung der Gesundheit und der Schulzucht der übrigen Schulkinder. Die Kinder des verstorbenen Zigeuners Adam Lind, welche die hiesige Volksschule besuchen, haben von jeher durch ihre Unsauberkeit, Unordnung und Unpünktlichkeit das Missfallen der Lehrer und Schüler erregt. Obwohl sie immer wieder von ihrem Lehrer zu Sauberkeit, Ordnung und Pünktlichkeit aufgefordert wurden, blieben trotzdem alle diese Ermahnungen und Aufforderungen erfolglos. Die Mutter der Kinder ist außerstande, die geringste Pflege ihren Kindern angedeihen zu lassen und sie zur Ordnung anzuhalten, da sie selbst nicht im Entferntesten diese Pflichten sich selbst gegenüber kennt. In den letzten Wochen und Monaten hat sich nun der Zustand der körperlichen Verkommenheit der drei Zigeunerkinder derart verschlechtert, dass es nicht mehr möglich ist, die Kinder infolge ihres widerlichen Geruchs, den Körper und Kleider ausströmen, als auch ihre Kopfläuse, länger unter den anderen Schulkindern zu belassen. Es sind verschiedentlich von Eltern der Schulkinder Beschwerden bei mir eingegangen, die mich auch veranlassen, Maßnahmen zur Entfernung der Zigeunerkinder aus der Schule zu ergreifen, da das Ungeziefer bereits auf einige der übrigen Kinder übergegriffen hat. Da eine Verwarnung der Mutter Walburga Lind ganz zwecklos sein dürfte, bitte ich, im Interesse des gesamten Schulbetriebes und um Beschwerden seitens der Eltern der Schulkinder den Boden zu entziehen, um Ausschulung der Zigeunerkinder. Da zudem der Vater der Kinder Zigeuner, d. h. nicht Reichsdeutscher war, dürfte eine Ausschulung wohl keine Bedenken mit sich bringen. Die schulischen Leistungen der Kinder sind gleich Null. Holderer, Lehrer“.

Eine ganze Familie stirbt im KZ

Wie zynisch ist die Beschreibung des Zustandes der Kinder, wenn man die verordnete Unterbringung im „Nelly-Häuschen“ ohne Wasser, Strom oder Toiletten bedenkt. Holderer wusste als „strammer Nazi“, wie er noch heute von lebenden ehemaligen Schülern genannt wird, genau, was diese Aktion für die Kinder bedeutete: Der direkte Weg ins KZ! Das gleiche gilt für Amtsbürgermeister Clemens. Aus den Akten der Konzentrationslager Dachau und Auschwitz konnte ich folgende persönlichen Daten der Familie ermitteln: Adam Lind wurde am 8. Dezember 1901 in Treschklingen, heute Bad Rappenau, Kreis Heilbronn, geboren und von Bonn aus am 14. Juli 1938 in das KZ Buchenwald eingeliefert. Aus einer Karteikarte von Buchenwald erfahren wir, dass Adam Lind im Besitz von einem Paar Schuhe, einem Paar Strümpfe, einem Rock/Kittel, einer Hose, einer Weste/Pullover, einem Hemd und einem wertlosen Ring war. Von Buchenwald kam er am 10. Oktober 1940 ins KZ Dachau, wo er am 16. April 1942 ermordet wurde.

Walburga Lind wurde am 15. November 1915 in Drunstadt, heute Viereth-Trunstadt, Landkreis Bamberg, geboren und am 18. Dezember 1943 in Auschwitz ermordet. Johannes Lind wurde 1931 geboren und am 2. Dezember 1943 in Auschwitz ermordet. Selma Lind wurde am 10. Februar 1933 in Morsbach geboren und am 25. November 1943 in Auschwitz ermordet. Rosa Lind wurde am 30. September 1935 in Niederschelden geboren und am 9. November 1943 in Auschwitz ermordet. Luzia Lind wurde am 21. August 1937 in Netphen-Hainchen geboren und am 22. Juli 1943 in Auschwitz ermordet. Hiermit endet mein Bericht über eine harmlose Familie, die mitten unter uns gelebt hat und grausam ermordet wurde.

76 Jahre hat es gedauert, bis das Schicksal der Familie Lind restlos aufgeklärt werden konnte. In seiner Sitzung heute Abend um 19 Uhr beschäftigt sich der Rat in Nisterberg im Dorfgemeinschaftshaus mit der Frage, wie man ihr ein gebührendes Gedenken bereiten kann.

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