Die Grubenlampe hatte nicht richtig funktioniert, erinnerte sich Emil Oerter an diesen schicksalhaften Tag. Oerter stammte aus Herdorf und war damals Betriebsführer der Grube Concordia. Er wollte am 12. September 1922 gemeinsam mit zwei weiteren Bergleuten in die Grube fahren, bemerkte jedoch einen Defekt seiner Karbidlampe. Während seine Kollegen bereits den Förderkorb betraten und einfuhren, blieb er zunächst über Tage und brachte seine Lampe in Ordnung. Nur einige Sekunden später musste Oerter erfahren, dass ihn dieser Umstand vor dem sicheren Tod bewahrt hatte.
Rund 200 Meter unter seinen Füßen nahm in diesem Moment eine Verkettung unglücklicher Umstände ihren Lauf: Zwei Praktikanten hatten auf der 100-Meter-Sohle fünf Förderwagen mit Bergematerial, also wertlosem Gestein ohne Erzgehalt, befüllt. Diese wollten sie zum Schacht fahren, als die Wagen auf abschüssiger Strecke ins Rollen gerieten und nicht mehr gebremst werden konnten. Der Zug durchbrach die Schachtverschlüsse und stürzte rund 150 Meter tief auf das Dach des ausfahrenden Förderkorbes.
Dieser löste sich unter der enormen Wucht des Aufpralls vom Seil und stürzte mit dem darin fahrenden Bergmann in den Abgrund. Ebenso der zweite Förderkorb mit den beiden einfahrenden Kollegen des Betriebsführers. Oerter schilderte das Abreißen des Seiles später als „ungewöhnliches Geräusch“, welches ihn aufblicken ließ. „Mir sträubten sich buchstäblich die Haare“, erinnerte er sich, denn er wusste nur zu gut, dass das niemand überlebt haben konnte.
Eingesperrt in 550 Metern Tiefe
Wie sich herausstellen sollte, eine Fehleinschätzung, die ihm aber niemand zum Vorwurf machen konnte. Im sogenannten Pumpensumpf, dem tiefsten Punkt des Schachtes, wo sich das zufließende Wasser sammelte, arbeitete während des Unglückes der Herdorfer Bergmann Franz Helmert. „Ich war allein im Sumpf und vor Müdigkeit ein wenig eingenickt. Ein donnernder Schlag weckte mich auf. Ich wusste sofort, dass der Korb abgestürzt war.“
Und im Wissen um die Misere, in der er sich nun befand, schloss er seine späteren Schilderungen mit der verzweifelten Erkenntnis: „Ich war eingesperrt!“ Die beiden Förderkörbe waren an einer Arbeitsbühne über seinem Standort zerschellt. Sein Weg nach oben war damit abgeschnitten. Doch immerhin war Helmert, wenn auch ohne Wissen der Betriebsführung, wie durch ein Wunder noch am Leben.
Nun stieg aber langsam und unaufhaltsam das Wasser im Schacht. Die Pumpe war zwar noch intakt, doch hatte einer der beiden Körbe auf dem Weg nach unten die Pumpleitung zerstört. Das Wasser sprudelte aus der geborstenen Leitung, „klatschte auf das Eisenknäuel des Korbes und weiter in den Sumpf, und dieser stieg an!“, beschrieb Helmert seine bedrohliche Situation.
Zunächst flüchtete er von seinem nassen Standort in eine etwas höher liegende Nische in der Schachtwand. Als das ansteigende Wasser diese erreichte, sprang er in den noch weiter oben im Schacht hängenden Förderkübel, den er für seine Arbeit zuvor genutzt hatte. Hier konnte er zunächst einige Stunden zur Ruhe kommen, ehe ihn das Wasser erneut einholte. Nun knotete er in das Seil, an dem der Kübel – ein im Bergbau gebräuchlicher Fördereimer – hing Trittschlaufen, um daran Meter um Meter weiter nach oben zu gelangen. Als Schutz gegen Steinschlag und herabprasselndes Wasser stülpte er sich einen Fülltrog über den Kopf.
Dramatische Rettung nach 72 Stunden
So verging Stunde um Stunde, in denen er vor dem steigenden Wasser immer weiter nach oben flüchtete, bis er vor Erschöpfung einschlief und abrutschte. Sein Seil bekam er gerade noch so zu fassen, allerdings umgab ihn nun eine stockfinstere Nacht. Seine Karbidlampe war ins Wasser gefallen und erloschen. In völliger Dunkelheit stieg er im permanenten Wettlauf mit dem Tod weiter. Über 70 Stunden vergingen, in denen Franz Helmert keine Ruhe fand, völlig durchnässt und todmüde. Das Unglück hatte inzwischen deutschlandweit Aufsehen erregt.
In der Herdorfer Kirche wurde für Helmert die Totenmesse gelesen, als das Unfassbare geschah: Die Aufräummannschaft war inzwischen zu den zerschellten Förderkörben mit den drei Leichen darin vorgedrungen. Noch während sich die Schneidbrenner durch den Stahl fraßen, hörten die Bergleute unter sich die verzweifelten Hilferufe des Überlebenden. Der Weg zu ihm wurde freigelegt, ein Steiger stieg freiwillig am Seil zu Helmert hinab, mit einem Hammer bewaffnet. Die damalige Berichterstattung macht keinen Hehl daraus, dass jeder damit gerechnet hätte, Helmert sei nach der langen Zeit seiner Gefangenschaft nervenkrank und würde möglicherweise seinen Retter attackieren. Doch er war geistig kerngesund und konnte nach 72 Stunden unbeschadet gerettet werden.
Nach zwei Wochen Arbeitsunfähigkeit fuhr der einzige Überlebende dieses Schicksalstages – dem 12. September 1922 – wieder in die Grube. Doch die Ereignisse verfolgten ihn in seinen nächtlichen Träumen. Er kehrte bald dem Bergbau den Rücken, verließ die Heimat und wanderte in die Vereinigten Staaten von Amerika aus, wo er als Diener einer Synagoge eine neue Arbeit fand. Im Jahre 1962 starb Franz Helmert eines natürlichen Todes und überlebte damit sogar seinen Unglücksschacht um zwei Jahre.
Betriebsführer Emil Oerter, an dem das Unglück um Haaresbreite vorübergegangen ist, war bis 1956 im Bergbau beschäftigt, zuletzt als Betriebsführer der Herdorfer Grube San Fernando. Er starb im Jahre 1964 im Alter von 76 Jahren.