Aus erster Hand und eigenem Erleben zu hören, was Magersucht bedeutet, macht betroffen. Mit „Erfahrungsbericht mit Herz, Humor und ein wenig Verstand“ war der Vortrag überschrieben, den die 45-jährige Sabrina Scharf im Lenné-Schlösschen in Bad Neuenahr-Ahrweiler hielt. Mit ihrer Krankheit ist Sabrina Scharf nicht allein – auch im Kreis Ahrweiler gibt es immer wieder Fälle von Magersucht und Essstörungen, wie Zahlen des Statistischen Landesamtes zeigen. Ein Erlebnisbericht einer Krankheit, die viele betrifft und noch mehr Menschen betroffen macht.
Das Quäntchen Verstand, das Sabrina Scharf nach zehn Jahren in der Hölle Magersucht geblieben ist – denn das Gehirn schrumpft tatsächlich bei Anorexie –, nutzt sie, um Menschen aufzurütteln, genauer hinzuschauen. Auf sich selbst und auf die Mitmenschen. Denn bei ihren Vorträgen, die sie unter anderem auch in Schulen hält, hat sie erlebt, dass Schüler plötzlich aus sich heraus gegangen sind, von Missbrauch, dem trinkenden Vater oder Gewalt erzählt haben. Und davon, dass sie sich nicht ernst genommen fühlen.
Sportschüler waren hochgradig essgestört
An einer Elite-Sportschule hat sie in einer reinen Jungenklasse Jugendliche gesehen, von denen 50 Prozent hochgradig essgestört waren. „80 Prozent waren Ringer, die nur im Kopf hatten, dass sie in der Gewichtsklasse blieben, die der Sport abverlangt“, erzählte sie. Die meisten Fälle von Anorexie betreffen Mädchen im Alter zwischen 15 und 19. Sabrina Scharf hat es jedoch getroffen, als sie mit Anfang 30 als junge Mutter einer zweijährigen Tochter zum zweiten Mal verheiratet eigentlich fest im Leben stand.
Als Referentin Sabrina Scharf im Lenné-Schlösschen anfragte, ob sie dort ihren Vortrag halten könnte, rannte sie bei Geschäftsführerin Aniko Schweigert offene Türen ein. Sie wisse aus Gesprächen mit Lehrern der drei Gymnasien in der Kreisstadt, dass Magersucht ein immer größer werdendes Thema sei.Essstörungen: Ein immer größer werdendes Thema in Schulen im Kreis Ahrweiler
„Jede Sucht überdeckt ein tief liegendes Problem, bei mir war es mein angeknackstes Selbstbewusstsein durch Gewalt und Erniedrigungen meines ersten Mannes“, so Scharf. Mit der Magersucht habe sie sich ein „Überlebens-Ich“ als Schutz geschaffen, doch dieser vermeintliche Rettungsanker zerstöre den Menschen. „Ich wollte immer perfekt sein, und als Superwoman konnte ich auch nicht die Sorgen anerkennen, die sich Menschen um mich machten, als ich immer dünner wurde“, erzählte die Referentin. Sie habe es durch ihre gestörte Körperwahrnehmung einfach nicht gesehen. Leggings habe sie, als sie bei einer Körpergröße von 1,76 Metern und 44 Kilo Gewicht gelandet war, nicht angezogen. Weil sie dachte, sie sähe zu dick aus.
Haut vom Kirchkernkissen verbrannt
Als sie ihrem Mann im Schwimmbad eine Frau zeigte und meinte, die sei magersüchtig und nicht sie, hatte dieser entgegnet: „Wenn du fünf Kilo zunimmst, siehst du vielleicht annähernd so aus.“ Das wollte sie nicht auf sich sitzen lassen, ging zu einer professionellen Fotografin und ließ sich nackt fotografieren. Selbst deren Kommentar, dass so wohl die Leute im KZ ausgesehen haben müssen, brachte Sabrina Scharf nicht zur Besinnung. Als sie vor den Zuschauern ihres Vortrags ihren Bauch freilegte, sahen dieses verbrannte Hautgewebe – entstanden durch die heißen Kirschkernkissen, in die sie sich immer gepackt hat, weil ihr so kalt war.
Sie hatte sich sogar daran gewöhnt, dass sie ihre Blase und ihren Schließmuskel nicht mehr unter Kontrolle hatte. Und als der Arzt ihr im Alter von 35 Jahren sagte, sie müsse zunehmen oder sie bekäme einen Herzschrittmacher, ist sie einfach nicht mehr zum Arzt gegangen. Sie konnte sich einfach nicht eingestehen, dass die Sucht die Kontrolle über ihr Denken und den Körper übernommen hatte, weiß und berichtet Sabrina Scharf heute.
Gute Therapie statt gut gemeinter Sprüche
Dass sie die Kehrtwende geschafft hat, ist dem Augenblick zu verdanken, als ihre Tochter sich herzzerreißend weinend vor sie stellte und sie anflehte: „Bitte lass mich nicht allein auf der Welt, kannst du nicht essen wie andere?“ Der Spruch „Iss doch einfach etwas“ nutzt bei von Magersucht Betroffenen allerdings nichts. Es braucht eine gute Therapie – so auch im Fall von Sabrina Scharf. Dennoch ist sie immer noch sehr dünn und wiegt gerade mal 54 Kilo. Das liegt jedoch nicht daran, dass sie nichts isst. „Ich habe mir eine Migräne angehungert, und wenn ich Tabletten dagegen nehme, ist mir drei Tage schlecht. Zudem habe ich eine Darmerkrankung durch die Sucht, 50 Prozent von dem, was ich esse, kommen binnen kürzester Zeit wieder flüssig unten raus“, beschreibt sie ihren aktuellen Zustand. Doch der hält sie nicht davon ab, ihre Geschichte zu erzählen. „Ich kämpfe an allen Linien und möchte, dass die Menschen davon erfahren“, sagt sie.
Weitere Informationen gibt es auf der Internetseite https://www.sabrina-scharf.de
Zahlen rund um das Thema Essstörung
Laut Statistischem Landesamt gab es im Jahr 2022 (die Daten für 2023 sind noch nicht abschließend aufbereitet) 19 stationäre Krankenhaus-Behandlungsfälle von Personen mit Wohnsitz im Landkreis Ahrweiler mit der Diagnose F50.0 – Anorexia nervosa, also eine psychisch bedingte Essstörung. Landesweit waren es 565 Fälle. In der Zeit zwischen den Jahren 2011 und 2022 schwankten die Fallzahlen vollstationär behandelter Essstörungen im Kreis Ahrweiler zwischen 6 und 35 im Jahr. In Rheinland-Pfalz in diesem Zeitraum zwischen 441 und 586. Insgesamt mussten im Kreis Ahrweiler in diesem Zeitraum 215 Menschen stationär wegen einer Essstörung im Krankenhaus behandelt werden – davon 30 Männer. Wie der Verwaltungschef Karl-Heinz Ritzdorf der DRK-Klinik der Kreisstadt, in der unter anderem auch Essstörungen ambulant und stationär behandelt werden, sagt, schwankt der Anteil dieser Patientengruppe dort zwischen 20 und 30 Prozent.
Die Anorexia ist durch einen absichtlich selbst herbeigeführten oder aufrechterhaltenen Gewichtsverlust charakterisiert. Am häufigsten ist die Störung bei heranwachsenden Mädchen und jungen Frauen; heranwachsende Jungen und junge Männer, Kinder vor der Pubertät und Frauen bis zur Menopause können ebenfalls betroffen sein. Als konkretes Beispiel: Von den 19 stationären Krankenhausfällen mit Essstörung im Jahr 2022 sind 15 jünger als 19 Jahre und eine jünger als 24 – alle 19 sind Frauen.
Die Krankheit ist mit einer spezifischen Psychopathologie verbunden, wobei die Angst vor einem dicken Körper und einer schlaffen Körperform als eine tief verwurzelte überwertige Idee besteht und die Betroffenen eine sehr niedrige Gewichtsschwelle für sich selbst festlegen. Es liegt meist Unterernährung unterschiedlichen Schweregrades vor, die sekundär zu endokrinen und metabolischen Veränderungen und zu körperlichen Funktionsstörungen führt. Zu den Symptomen gehören eingeschränkte Nahrungsauswahl, übertriebene körperliche Aktivitäten, selbst herbeigeführtes Erbrechen und Abführen und der Gebrauch von Appetitzüglern und Diuretika. ith