Seit Ende des Zweiten Weltkriegs war Bonn das Zentrum des politischen Deutschlands: Hier hatte man mit den Alliierten zusammengearbeitet und Pläne für die weitere Entwicklung der Nation geschmiedet, hier hatte man das Grundgesetz verabschiedet, hier demonstrierten später Hunderttausende für Frieden und Abrüstung sowie gegen den Nato-Doppelbeschluss.
Mehr als 40 Jahre lang pulsierte in dem einstigen Bundesdorf, das aufgrund seiner exponierten Stellung konsequent ausgebaut worden war, das Leben – und mit einem Mal sollte all dies verschwinden? Was würde denn dann noch bleiben, was würde werden? Diese Frage ist selbst heutzutage noch nicht vollständig geklärt, obwohl Bonn auf der Suche nach einer neuen Identität vieles gelungen ist. Und sie doch auch an manchem gescheitert ist.
Politisch nicht mehr relevant
Offiziell sollte Bonn auch nach dem Umzug der Bundesregierung politisch relevant bleiben, unter anderem, indem sieben Ministerien (darunter das 1998 aufgelöste Bundespostministerium) ihren ersten Dienstsitz in der Bundesstadt behalten sollten. Schnell wurde allerdings klar, dass dies in der Realität nicht funktionieren würde – die Ministerinnen und Minister sind inzwischen so selten in Bonn anzutreffen, dass jeder Besuch eine eigene Pressemitteilung wert ist. Also musste Bonn sich neu erfinden.
Der naheliegendste Ansatz, Ludwig van Beethoven stärker in den Fokus zu rücken, torpedierte die Stadt allerdings selbst, als sie sich 1993 entschloss, die Zuschüsse für das ohnehin nur noch alle drei Jahre stattfindende Beethovenfest ganz zu streichen. Ausgerechnet der 225. Geburtstag des Komponisten musste somit ohne Festival auskommen. Nur das immense Engagement der Bürgerschaft, die 1996 bis 1998 einen Beethoven-Marathon organisierte, überzeugte den Stadtrat von einer Wiederbelebung des Festivals.
Das hatte aber auch zur Folge, dass an anderer Stelle gespart wurde, was angesichts einer desolaten Haushaltslage insbesondere in den vergangenen Jahren ausgeufert ist. Gleichzeitig hat vor allem Nike Wagner, die von 2014 bis 2020 als Intendantin des Beethovenfests agierte, das Programm eher auf ein fachkundiges Publikum statt auf die breite Masse ausgerichtet, was der Akzeptanz des Festivals in Bonn nicht allzu gut getan hat. Die Probleme auf der seit Jahren brachliegenden Baustelle der Beethovenhalle, deren Sanierung längst sämtliche Kostenkalkulationen gesprengt hat, sind ebenfalls nicht geeignet, das Image Bonns als Beethovenstadt voranzutreiben.
Dafür kann Bonn mit anderen Kulturangeboten glänzen, darunter zwei der besten Kinder- und Jugendtheater und zwei der renommiertesten Kleinkunstbühnen Deutschlands, einem jungen, aber exzellenten Jazzfest sowie einer vielfältigen Open-Air-Saison mit hochkarätigen Stars. Keine andere Stadt vergleichbarer Größe verfügt über solch ein Angebot.
Stolz ist Bonn darauf, als deutsche Stadt der Vereinten Nationen bei vielen Zukunftsthemen mitreden zu können. Schon 1951 siedelte sich das Amt des Hohen Flüchtlingskommissars am Rhein an – die erste UN-Organisation mit globaler Aufgabenstellung kam allerdings erst 1984 in die Bundesstadt.
Balsam auf die Seele
Seitdem ist viel passiert: Inzwischen haben 26 UN-Organisationen mit rund 1000 Mitarbeitenden ihren Sitz in Bonn, mit einem großen Schwerpunkt auf Themen der Nachhaltigkeit und des Klimaschutzes. Die Stadt hat sich längst zu einer Art Global Player in diesem Bereich entwickelt, zumal auch viele Nichtregierungsorganisationen, wissenschaftliche Einrichtungen und weltweit agierende Konzerne wie die Deutsche Post und die Telekom hier ihren Sitz haben. 2017 konnte Bonn sogar die 23. UN-Klimakonferenz ausrichten und stand dadurch erneut im Fokus der Weltöffentlichkeit.
Für die ehemalige Hauptstadt war dies Balsam für die Seele. Eine weitere große Konferenz dieses Formats hat es seitdem allerdings nicht gegeben, und im Alltag vieler Bürgerinnen und Bürgern spielt die UNO ohnehin so gut wie keine Rolle.
Auch in puncto Wissenschaft steht Bonn eigentlich sehr gut da. Sowohl die Universität als auch deren angegliedertes Klinikum genießen international einen hervorragenden Ruf, in manchen Fachbereichen (etwa in der Mathematik) zählt die Hochschule gar zu den besten der Welt. Im Gegensatz zur UNO, die nur selten außerhalb der Mauern ihres UN-Campus Präsenz zeigt, ist die Universität omnipräsent – kein Wunder, machen Studierende doch etwa 10 Prozent der Gesamtbevölkerung aus.
Institutionen wie der Deutsche Akademische Austauschdienst (DAAD), die Alexander-von-Humboldt-Stiftung, die Deutsche Forschungsgesellschaft, die Bundeszentrale für Politische Bildung sowie gleich drei Max-Planck-Institute erweitern diesen Rahmen noch und verdeutlichen, welchen hohen Stellenwert die Stadt innerhalb der Wissenschaftsgemeinschaft hat.
In den vergangenen Jahren hat sich Bonn aber noch ein weiteres Image erarbeitet: Das der Schildbürgerstadt. Immer wieder kommt die Metropole in die Schlagzeilen, weil Sanierungen und Neubauten deutlich teurer werden oder länger dauern, diese den Verkehr lahmlegen oder hinterher nicht die erhofften Erträge liefern. Nicht alle diese Miseren sind hausgemacht, und nicht alle wären vermeidbar gewesen.
„Eine Art Babyfläschchen“
Einen der Gründe hat aber der Kabarettist Konrad Beikircher einmal treffend beschrieben: „Früher ging man eben mit dem Köfferchen ins Regierungsviertel, dann ist da Geld reingestopft und im Stadthaus wieder ausgegeben worden. Der Bund hat alles ausgeglichen und bezahlt. Insofern hatte Bonn 50 Jahre lang so eine Art Babyfläschchen, und auf einmal musste die Stadt auf eigenen Beinen stehen. Das hat sie bis heute noch nicht richtig gelernt.“
Gleichzeitig sind viele Projekte erst angegangen worden, als es fast schon zu spät war – die anstehende Sanierung des Stadthauses ist dabei ebenso zu nennen wie verschiedene Straßenbauprojekte. Diese haben Bonn ein massives Erreichbarkeitsproblem serviert, das durch einen Verkehrsversuch zum Ausbau von Radwegen – bei gleichzeitiger Reduzierung der für Autos und Lkw stehenden Spuren – nur verstärkt wird. Die erhoffte Vorreiterrolle in nachhaltiger Mobilität hat Bonn auf jeden Fall noch nicht. Manchmal dauert es eben ein paar Jahre oder Jahrzehnte, bis man sich von einigen Altlasten getrennt hat.