Auch wenn die Herberge vom Hochwasser verschont blieb, sind die beiden Zuwege zerstört, und inzwischen hat sich Grundwasser ins Untergeschoss gedrückt. Außerdem gibt es auch einen Monat nach der Flut keinen Strom, und so kann nicht überprüft werden, ob der Brunnen, der die Herberge mit Wasser versorgt, noch funktionsfähig ist. Die Herbergsleiterin arbeitet zurzeit von der Jugendherberge in Bad Neuenahr-Ahrweiler aus, denn trotz Schließung muss die Buchhaltung gemacht werden, E-Mails und Buchungsanfragen beantwortet werden. Ihre Mitarbeiter sind erst einmal in Kurzarbeit, denn wann die Jugendherberge mit ihren 91 Betten in 24 Zimmern wieder Gäste aufnehmen kann, steht noch in den Sternen.
Auto mit Panzer abgeholt
Colantonio hofft, dass das Gebäude in der Zwischenzeit zumindest als Notunterkunft für die Bauarbeiter, die dringend für den Wiederaufbau von Altenahr benötigt werden, genutzt werden kann. Das würde bedeuten, dass die Zuwege wieder hergestellt würden, und das Haus wäre endlich wieder bewohnt. „Das Ganze ist erst vier Wochen her, und schon sieht es hier verwahrlost aus“, sagt die Herbergsleiterin, als sie mit kritischem Blick über das Gelände streift. In ihrer Wohnung sind nach wie vor die Rollläden heruntergelassen, vor den Fenstern im Untergeschoss sind Planen mit Bierbänken befestigt. Erst vor ein paar Tagen konnte die Familie ihr Auto holen, das noch an der Herberge stand – mit einem Bundeswehrpanzer und einem Abschleppkran.
Die 20-minütige Wanderung von Altenahr zur Herberge ist bereits eine eindeutige Verbesserung zu den Zuständen direkt nach der Flut, als Colantonio und ihr Mann sich teilweise an den Felswänden entlanghangelten, um zu schauen, ob die Herberge die Flutwellen überstanden hat. Beide Zuwege zur kleinsten, aber einer der beliebtesten Jugendherbergen in Rheinland-Pfalz und dem Saarland sind von den Wassermassen zerstört worden – die Straßen weggespült, die Fußgängerbrücke in drei Teile zerrissen. Einer dieser Brückenteile wurde notdürftig als Überquerung für Fußgänger hergerichtet. Denn im einst idyllischen Naturschutzgebiet steht nicht nur die Jugendherberge, sondern auch eine Handvoll Häuser, deren Anwohner sich – soweit möglich – an den Wiederaufbau machen. In der Ahr liegen noch ein paar Boote und gespannte Seile als Zeugnis des einzigen Fortbewegungsmittels direkt nach der Flut.
Dass das Hochwasser für Gäste und Mitarbeiter der Herberge so glimpflich ausgegangen ist, ist auch Isabela Colantonio zu verdanken, die den Wasserpegel seit dem Tag vor der Flut im Auge hatte. Denn bereits da war ein erhöhter Wasserstand gemeldet, was die Lkw-Zulieferungen zur Herberge beeinflussen würde. Die Fahrzeuge müssen nämlich durch besagte Furt und je nach Pegel ist das nicht möglich, ergo können auch die Gäste nicht versorgt werden. So hatte die Herbergsleiterin schon Plan B bereit, und nach Rücksprache mit der Zentrale und der Feuerwehr wurden die Gäste am Mittwochmorgen angewiesen, die Herberge zu räumen – und das bei vollem Haus, unter anderem mit ganzen Schulklassen. „Wir sind mitten in der Sommerzeit, und seit Corona ist es keine Seltenheit, dass ganze Familien für zwei Wochen ihren Urlaub bei uns verbringen“, so Colantonio, die einige Gäste umbuchen kann, andere fahren lieber nach Hause.
Sobald ihr Mann nach Hause kommt, verlassen auch sie die Herberge und suchen Unterschlupf bei Colantonios Mutter in Altenahr, wo sich auch schon Tochter Sophie befindet. Doch die Schreckensnacht sollte die junge Familie nicht zusammen verbringen können, denn Colantonio hilft ihrer Mutter in der Pizzeria ihres Bruders, gegen die Wassermassen anzukämpfen, und wird von den Fluten eingesperrt. Zusammen mit Mutter, Onkel und dem Pizzabäcker flüchtet Colantonio auf die Dachterrasse. Noch bis 22 Uhr hat sie Handyempfang, dann Funkstille. Isabela Colantonio kann nicht aufhören, an Mann und Tochter zu denken, und hofft, dass sie in Sicherheit sind: „Das Haus meiner Mutter liegt zwar etwas höher, aber das Wasser kam von überall, bei den Wassermassen hätte auch ein Erdrutsch passieren können.“ Mit Kerzen checken die vom Wasser Gefangenen den Pegelstand, der bei der dritten Stufe im zweiten Stock schließlich haltmacht. Kaum ist es hell, bahnt sich die Gruppe den Weg nach draußen, über Tische und Stühle hinweg. „Auf der Terrasse vor dem Haus waren vier Autos gestrandet, alles war voller Müll, wir sind an Särgen vorbei, Ratten, Möbeln, es stank bestialisch, und überall war ein roter Heizölfilm“, erinnert sich die 33-Jährige, der noch heute die Tränen kommen, wenn sie an die gespenstischen Bilder denkt, zu denen auch eine Hand gehört, die aus den Trümmern herausragte.
Flutnacht hat Spuren hinterlassen
Kaum ist sie endlich wieder mit Mann und Tochter vereint, wird erst einmal „ganz viel geweint“. Die Schreckensnacht hat ihre Spuren hinterlassen. „Wir haben zwei Wochen kaum geschlafen, Sophie hatte immer wieder Albträume, ist sehr anhänglich und will zurzeit den ganzen Tag in die Kita, was sie sonst nie wollte“, berichtet die besorgte Mutter.
Als Seelsorger in den Ort kommen, sucht die Fünfjährige von sich aus das Gespräch und bekommt als Verarbeitungswerkzeug den Tipp zu malen, „damit die bösen Träume weggehen“. Sophie bittet ihre Mutter, „Altenahr wird wieder schön“ auf ihre gemalten Kunstwerke zu schreiben, die den Ort im Glanze ganz vieler bunter Blumen zeigen. Und als sich die Fünfjährige bei einem Kurzurlaub im Saarland an einem Wunschbaum etwas wünschen darf, sind es nicht Puppe oder Fahrrad wie bei anderen Kindern: „Ich wünsche mir, dass es kein Hochwasser mehr gibt, das macht alles kaputt.“ Sandra Fischer