Eine ältere Frau steht gebeugt vor der Gedenkstätte in der Pestalozzistraße 7. Stille Trauer. Auch ihre 57- jährige Tochter, die das Down-Syndrom hatte, ist unter den Todesopfern. „Sie ist wohl im Schlaf überrascht worden“, sagt sie. So hat man es ihr erzählt. „Hoffentlich hat sie nicht gelitten.“ Es ist ihr erster Besuch am Ort der Tragödie – acht Wochen nach dem Tod ihrer Tochter. Eine Freundin ist mitgekommen, um sie zu stützen.
„Das war ihr Zuhause“, betont sie. Ihre Tochter habe sich so wohl gefühlt, sei so selbstständig geworden. Sie habe gern in der Werkstatt der Lebenshilfe gearbeitet. „Das hat ihr so viel Spaß gemacht, dass sie am liebsten gar keinen Urlaub genommen hätte“, sagt sie. Doch ihr Zimmer lag im Erdgeschoss. Sie hatte keine Chance, als das Wasser gegen 2.30 Uhr in Sekundenschnelle fast bis zur Decke anstieg. Der verkrustete Schlamm klebt noch immer an den schmutzigen Wänden. Auch ihr Freund hat die Nacht nicht überlebt. „Sie waren so ein glückliches Paar“, erinnert sich seine Mutter.
Ute Saad kann sich gut an die fröhliche Frau erinnern. „So eine kleine Süße“, sagt die Nachbarin, die genau gegenüber wohnt. Pestalozzistraße 8. „Die beiden sind immer Händchen haltend durch die Stadt gegangen.“ Dass beide nun tot sind, hat sie tief erschüttert. Ute Saad musste das Drama von ihrem Fenster aus hilflos mitverfolgen. Es sind Szenen, die sie nie vergessen wird. Ein Mann hat es nach draußen geschafft. „Ich will nicht sterben“, habe er gerufen. „Ich kann nicht schwimmen.“
Doch zu diesem Zeitpunkt ist die sonst so ruhige Straße längst zu einem reißenden Strom angeschwollen. „Der Mann stand wohl auf dem Sims einer Fensterbank und konnte gerade so seinem Kopf über Wasser halten“, vermutet Ute Saad. Eine furchtbare Vorstellung. Doch die Nachbarin kann nur die Feuerwehr anrufen. 2.58 Uhr. Aber da kommen selbst die Rettungskräfte nicht mehr bis zur Lebenshilfe durch. „Wir standen ja in einem Meer“, erinnert sich Ute Saad.
Was sich drüben genau abspielt, kann sie nur ahnen. Denn es ist stockdunkel. „Wir konnten den Mann nur hören, nicht sehen.“ Und so versuchen sie, den Verzweifelten, der irgendwann mit den Kräften am Ende ist, zu beruhigen. Hilfe sei unterwegs. Auch ein anderer Nachbar schaltet sich in das Gespräch ein. Bis in die frühen Morgenstunden wird der behinderte Mann um Hilfe betteln. Nass bis auf die Haut. Auch Ute Saad und ihre Tochter können kein Auge zutun. „Da kommen Sie nicht zum Schlafen“, sagt Ute Saad. „Da sind Sie voller Adrenalin.“
Aber wie kann es überhaupt sein, dass niemand vor der Flutwelle gewarnt hat? Diese Frage stellt sich nicht nur Ute Saad. Hätte der Tod von zwölf hilflosen Menschen nicht verhindert werden müssen? Fakt ist: Gegen 23.30 Uhr klopft die Feuerwehr bei der Lebenshilfe an. Da sind sich Stadt und Lebenshilfe einig. Denn um 23.09 Uhr ist der Katastrophenalarm ausgerufen worden. Jetzt müssen alle Gebäude evakuiert werden, die sich 50 Meter rechts und links der Ahr befinden. Laut Lebenshilfe soll der Feuerwehrmann die Nachtwache aber beruhigt haben. Es sei keine Aktion erforderlich. „Es ist mir vollkommen unverständlich, dass wir nicht vorher eindringlich gewarnt worden sind“, erklärt Geschäftsführer Stefan Möller auf Nachfrage unserer Zeitung. Der Sinziger Stadtbürgermeister Andreas Geron hingegen widerspricht dieser Version energisch. Gegenüber unserer Zeitung betont er, die Lebenshilfe sei bei diesem Besuch deutlich gewarnt worden. Wie deutlich? Das steht wohl auch im Einsatztagebuch der Sinziger Wehr, das jetzt bei der Staatsanwaltschaft liegt.
Sicher ist, dass erst mal nichts passiert. Und das zu einem Zeitpunkt, an dem am Oberlauf der Ahr selbst die düstersten Prognosen schon längst von der Realität überholt worden sind. In Altenahr und Dernau kämpfen die Bewohner schon seit Stunden um ihr Leben. Ganze Dörfer sind verwüstet. Kann es wirklich sein, dass im 21. Jahrhundert keine Nachricht aus den Katastrophengebieten bis nach Sinzig durchgedrungen ist? Denn dort funktionieren Handys, Telefone und Internet ja noch.
Ute Saad jedenfalls wird nicht gewarnt. Keine Sirene, keine Warndurchsagen. „Nix, gar nix“, sagt sie. „Die hätten uns doch alle rausklingeln müssen“, sagt sie. Denn der nördliche Teil der Straße, auf dem sich das Hauptgebäude der Lebenshilfe befindet, gilt laut Sinziger Hochwasserkarte bei Extremwetterlagen als gefährdet. Und genau die hat sich in dieser Nacht über dem Ahrtal zusammengebraut. Gegen 23.30 Uhr sieht Ute Saad, wie Autos durch ihre Straße rasen. Heute vermutet sie, dass sich die unmittelbaren Ahr-Anrainer nach der Evakuierungsaufforderung in Sicherheit gebracht haben. Von all dem weiß sie in der Nacht des 14. Juli aber nichts. Ihre Tochter geht sogar um 1 Uhr noch mal mit dem Hund spazieren. Auch sie ahnt nicht, dass gerade eine tsunamiartige Welle auf Sinzig zurast. Woher auch? Niemand hat sie informiert. Und so geht Sinzig schlafen.
Auch die Tochter von Ute Saad. Bis sie kurz nach 2 Uhr von einem Geräusch geweckt wird. In ihre Wohnung im Souterrain sickert Wasser ein. „Als sie aufgestanden ist, stand sie bis zu den Knöcheln im Wasser“, erzählt ihre Mutter. Ihr Hund schwimmt in seinem Körbchen im Wasser. Durch die Haustür strömt die Ahr herein. „Meine Tochter hat die wichtigsten Sachen zusammengepackt, und ist zu mir nach oben gekommen.“
Die schnelle Flucht rettet ihr das Leben. Überlebensinstinkt. „Das lief ab wie ein Film“, erinnert sich Ute Saad. Und zwar im Zeitraffer. „Das war kein Hochwasser, dass langsam steigt“, sagt sie. „Das war eine Flutwelle wie ein Tsunami.“ Innerhalb weniger Minuten sind Keller und Erdgeschoss vollgelaufen. Fassungslos starren sie aus dem Fenster. „Überall stand eine braune Brühe“, sagt Ute Saad. Es gibt kein Entkommen mehr.
Was zu diesem Zeitpunkt im Wohnhaus gegenüber passiert, lässt sich nur bruchstückhaft rekonstruieren. Sicher ist, dass kurz nach 2 Uhr erneut ein Feuerwehrmann in der Pestalozzistraße 7 vorbeikommt. Endlich kommt die Aufforderung zu evakuieren. Doch jetzt ist es dafür viel zu spät. Vier Menschen kann die überforderte Nachtwache noch aus einem Nebengebäude retten. Dann steht das Wasser plötzlich kniehoch in den Ahrwiesen. Der Mitarbeiter schafft es nicht mehr zurück.
Die Behinderten sind der Flutwelle nun hilflos ausgeliefert. Zwölf davon werden die Nacht nicht überleben. Der Mann, der stundenlang um Hilfe geschrien hat, wird erst in den frühen Morgenstunden des 15. Juli vollkommen unterkühlt von Einsatzkräften geborgen, die sich dem Wohnhaus mit einem Flachboot nähern.
Die 57-Jährige hat nicht so viel Glück. Ihre Mutter wird von ihrem Tod erst Tage später erfahren, wie sie gegenüber unserer Zeitung berichtet. Zunächst, weil das Telefonnetz in Sinzig zusammengebrochen ist. Und die Opfer müssen erst identifiziert werden. „Da durften wir der Polizei nicht vorgreifen“, sagt Lebenshilfe-Geschäftsführer Stefan Möller. Als die Mutter die traurige Nachricht schließlich fünf Tage später erhält, hatte sie schon keine Hoffnung mehr. Jetzt hofft sie nur noch, dass ihre Tochter nicht leiden musste.
Dirk Eberz