Oftmals geht es in der Biografie eines Menschen darum, was letztlich die Oberhand gewinnt. Bei dem knapp zehn Jahre in Bad Bodendorf beheimateten und heute in Neuwied lebenden Schauspieler, Regisseur und Sprecher Fritz Stavenhagen ist es die Poesie. Stavenhagen ist unter anderem als Erzähler der preisgekrönten Kinder-Musical-Serie „Ritter Rost“ seit 1994 in zigtausenden Kinderzimmern Deutschlands zu hören und steht auch nach mehr als 30 Jahren für die preisgekrönten Produktionen des Duos Jörg Hilbert und Felix Janosa weiter hoch im Kurs.
Jetzt flatterte dem 79-Jährigen ein Schreiben des Kultusministeriums ins Haus, in dem ihm mitgeteilt wurde, dass er das Bundesverdienstkreuz verliehen bekommen soll. Wofür? Für seine Internetseite „Deutsche Lyrik“, die er eigentlich aus Frust darüber, dass ihm trotz aller Mühen in zig Produktionen auf der Bühne oder in Film- und Ton-Studios der Durchbruch zu seiner Meinung nach verdienter Weltkarriere versagt blieb, im Jahr 2001 ins Leben rief.
Internetseite verzeichnet zahlreiche Aufrufe
Wer sich fragt, wer sich heute noch ernsthaft für deutsche Lyrik interessiert, dem sei gesagt: offenbar jede Menge Menschen. Denn das, was Stavenhagen als persönlichen Streifzug durch die 800 Jahre deutscher lyrischer Geschichte begann und nach und nach aufbaute, indem er die Verse deutscher Geistesgrößen mit seiner Stimme vertonte, hat heute täglich zwischen 5000 und 10.000 Aufrufe.
Mehr als 1800 Gedichte von 136 deutschsprachigen Autoren sind dort zu finden. Sauber untergliedert und sehr benutzerfreundlich mit diversen Suchoptionen. Alphabetisch von A wie Abraham a Santa Clara bis Z wie Stefan Zweig. Nach Epochen geordnet vom Mittelhochdeutschen über Barock, Aufklärung, Romantik oder Biedermeier bis zum Realismus, zwischen den Kriegen und der jüngsten Moderne. Oder auch nach Kategorien deutscher Sinngedichte wie Liebe, Tod, Natur, Balladen, den Sinn des Lebens, Humor oder auch Kindergedichte. Auch wenn jemandem nur noch eine Verszeile wie etwa „das blaue Band“ in seinem Gedächtnis haften geblieben ist, so öffnet sich nach dem Eintrag des Fragments in die Suchleiste Eduard Mörikes ganzes Gedicht über den Frühling.

Stavenhagen ist auch politisch interessiert
„Für mich selbst gibt es kein Lieblingsgedicht. Es ist eigentlich immer das, womit ich mich gerade beschäftige, aber Goethe, Schiller und Hölderlin sind mir schon sehr nah. Persönlich bin ich aktuell von Juli Zeh als Autorin sehr angetan“, erzählt Stavenhagen, der auch immer schon politisch interessiert war. So geht seine Interpretation von Erich Kästners „Stimmen aus dem Massengrab“ durch bis auf die Knochen.
Kostprobe: „Da liegen wir und gingen längst in Stücken. Ihr kommt vorbei und denkt: Sie schlafen fest. Wir aber liegen schlaflos auf dem Rücken, weil uns die Angst um Euch nicht schlafen lässt. Wir haben Dreck im Mund. Wir müssen schweigen. Und möchten schreien, bis das Grab zerbricht! Und möchten schreiend aus den Gräbern steigen! Wir haben Dreck im Mund. Ihr hört uns nicht.“
„Persönlich bin ich aktuell von Juli Zeh als Autorin sehr angetan.“
Fritz Stavenhagen
Widerstand gegen menschenverachtende politische Machenschaften war für Stavenhagen schon immer ein Muss. In einer der Seiten-Verlinkungen taucht etwa die LP „Hurra, wir sterben“ von Georg Kreisler auf, bei dessen Produktion Fritz Stavenhagen im Stuttgarter Renitenztheater mitwirkte. Auch eigene Gedichte hat Stavenhagen eingestellt. Darunter lesenswerte literarische Jugendsünden wie „Bomben der Barbaren – unorthodoxe Osterreflexionen“, in dem so etwas wie heiliger Zorn zu spüren ist.
Beeindruckt hatte den studierten Theaterwissenschaftler und Lehrer auch die berühmte Rede des Indianer-Häuptlings Seattle an den amerikanischen Präsidenten. So sehr, dass Stavenhagen hiervon eine CD-Produktion schuf. „Ich bin dankbar, dass ich nie dem Zynismus anheimgefallen bin, aber kritische Mundwinkel habe ich immer noch dann und wann“, sagt Fritz Stavenhagen über sich. So hatte er sich eine ganze Zeit lang auch für die V-Partei engagiert und kandidierte bei der Bundestagswahl 2017 auf deren rheinland-pfälzischer Landesliste.

Fritz Stavenhagen: Vom Fleischliebhaber zum Sprecher der V-Partei³
Neuwied. Fritz Stavenhagen ist Schauspieler, und seine Stimme ist dank Ritter Rost in vielen Kinderzimmern bekannt, doch seine neueste Rolle ist eine politische: Er ist der rheinland-pfälzische Sprecher der V-Partei³, die im April des vergangenen Jahres gegründet wurde.
Stavenhagen ist dem Leser stets sehr zugewandt
Auf Stavenhagens Lyrik-Seite finden sich in der sogenannten Wimmelkiste darüber hinaus eine Sammlung von Gedichten, philosophischer Traktate und persönliche Reflexionen auch von ausländischen Schriftstellern, um den Horizont zu erweitern. Was auch auffällt, ist die sehr zugewandte Ansprache des Lesers durch Stavenhagen, der sich, seine Gedanken und sein Wirken in der ihm eigenen warmherzigen und teils selbstironischen Art und Weise vorstellt. Wenn er etwa davon berichtet, dass er hinter einem von ihm aufgezeichneten kleinen Krimihörspiel vom RIAS Berlin von 1972, in dem er mitgewirkt hatte, einige A-cappella-Aufnahmen wiederfand und einen seiner Texte nun 50 Jahre später wie ein entlaufenes Schäfchen seiner Sammlung hinzufügte. Auch das erste Gedicht, was er einmal lange vor dem Lyrik-Seiten-Projekt vertonte, findet sich: Rainer Maria Rilkes „Der Panther“.
Damals war er noch für diverse Projekte im Medienbereich aktiv. „Einmal hat jemand zu mir gesagt: ,Sie sprechen ja auch Werbung’, als wäre das etwas Anrüchiges, aber der Schornstein musste eben auch rauchen“, sagt Stavenhagen lächelnd. Heute kann er sich als Zentrum seiner Arbeit den Lyrikern und deren Dichtkunst widmen, über die er auch ein kleines Büchlein als Einführung verfasst hat.

Lyrik-Lesung in der Neuwieder Stadt-Galerie: Wenn Ritter Rost von der Liebe spricht
Neuwied. Goethe, Schiller, Brecht und Ritter Rost: Wenn man genau hinhört, erkennt man, dass sie mit einer Stimme sprechen. Oder genauer gesagt, dass ihnen der gleiche Sprecher seine Stimme verleiht: Fritz Stavenhagen.
Beachtenswert ist auch, dass Fritz Stavenhagens Angebot komplett kostenfrei daherkommt. „Das Herunterladen und Anhören ist umsonst, aber ich freue mich über Spenden, die mittlerweile immerhin so fließen, dass meine Kosten gedeckt sind“, freut sich Stavenhagen über den Zuspruch ebenso wie über die wohlwollenden Kommentare in seinem Gästebuch.
Die Verleihung des Bundesverdienstkreuzes findet am 31. Januar in Mainz statt.
Weitere Informationen sind zu finden auf der Internetseite https://www.deutschelyrik.de/home.html