Doris kann sich nur noch stückchenweise an die Geschehnisse der Nacht erinnern, weiß nicht mehr, wie sie und Christoph es schaffen, inmitten all der Wassermassen die Terrassentür im Wohnzimmer zu öffnen und in die Freiheit hinauszuschwimmen. Durch den Gartenteich hat der Wasserpegel zusätzliche Tiefe, zum Glück löst sich ein Stück des Zauns, die beiden können zum Nachbargrundstück schwimmen, werden vom Nachbar auf die Terrasse gezogen. Von dort sehen sie Lichtsignale aus dem Schafzimmer, wissen, Jörg und Kai sind noch im Haus.
„Ich muss zurück“, beschließt Doris, will sich wieder in die Fluten stürzen, wird jedoch vom Nachbar zurückgehalten: „Du kannst nicht mehr zurück.“ Eine bange Zeit des Wartens, der Ungewissheit beginnt. Sie selbst sind in temporärer Sicherheit, wissen jedoch nicht, ob auch Jörg und Kai sich retten konnten.
Diese sind derweil ins erste Stockwerk geflüchtet, befürchten, auch dort nicht außerhalb der Gefahrenzone zu sein: „Wir müssen raus, sonst ertrinken wir“, sind sie sich sicher und versuchen, ebenfalls durch den Garten zu fliehen. Doch dafür müssen sie durchs Wohnzimmer, die Tür lässt sich nicht öffnen, zu stark die Wassermassen. Sie kämpfen sich durch die reißende Flut, gelangen schließlich durch die Vordertür nach draußen, doch dann geht der Gastank des Nachbarn hoch. Das Zischen bekommt Jörg noch heute nicht aus dem Kopf. Zusammen mit seinem Sohn kann sich der 57-Jährige aus der akuten Lebensgefahr retten und in Sicherheit bringen. Bange Minuten folgen, bis die Familie schließlich auf der sicheren Anhöhe im Ort wieder vereint ist.
„Wir versuchen, jeden Tag einen kleinen Schritt zu machen, der uns motiviert.“
Jörg Pöstges
Elf Monate nach den schrecklichen Erlebnissen lebt das Ehepaar auf 24 Quadratmetern im ehemaligen Kinderzimmer im oberen Stock ihres Hauses. In der Garage haben sie seit ein paar Tagen eine Notküche, aus zwei Steckdosen kommt Strom, und ein paar Treppen und Stockwerke weiter ist ein kleines Badezimmer mit WC und Dusche. „Wir versuchen jeden Tag einen kleinen Schritt zu machen, der uns motiviert“, beschreibt Jörg Pöstges. Nach zehn Monaten wurden kürzlich die Fenster ausgetauscht.
„Wir waren geschockt, wie viel Wasser und Schlamm da noch drin waren, aber das Positive ist: Wir haben jetzt neue Fenster.“ Auch die Stromversorgung soll bald wieder vollständig hergestellt sein. Wann die beiden wieder das ganze Haus bewohnen können, steht noch in den Sternen, „aber wir schaffen das, irgendwann“.
Die Kreuzberger könnten schon weiter sein beim Wiederaufbau ihres Hauses, doch gerade Doris‘ Engagement als Helferin ist zeitaufwendig, nimmt viel Freizeit in Anspruch. Als Ausgleich oder vielleicht auch ein wenig als Flucht aus dem tristen Rohbaualltag ist die 57-Jährige in Helfernetzwerken aktiv, kümmert sich unter anderem um die Bestückung von Versorgungszelten. „Sie wird inzwischen mehr als Helferin als eine Betroffene wahrgenommen“, berichtet Jörg und weiß, wie wichtig das Helfen nach einem solchen Trauma für die Psyche ist.
Durch die vielen Helferkontakte kam auch die ungewöhnliche Hochzeitstagfeier, eine Überraschung für das Jubelpaar, zustande. Organisiert von Notfallseelsorgerin Elke, einer festen Institution an der Laacher Station, wurden die beiden an ihrem Ehrentag würdig gefeiert.
Zu Torte und Blumen gab es außerdem eine wohlverdiente Auszeit an der Ostsee, auf die sich das Ehepaar schon freut. Schließlich haben Reisen in Verbindung mit ihrem Hochzeitstag eine Tradition bei den Kreuzbergern. 2016, zwei Tage nach dem „Jahrhunderthochwasser“, von dem sie allerdings nicht betroffen waren, haben die beiden zum 30. Hochzeitstag, der Perlenhochzeit, ihr Eheversprechen in der Little White Wedding Chapel in Las Vegas erneuert. Zur Leinwandhochzeit nach 35 Jahren sollte die Reise 2021 nach Thailand gehen. Corona machte ihnen einen Strich durch die Rechnung. „Mal schauen, was wir in 2022 machen“, lautete damals, rund einen Monat vor der Flut, die Devise für das nächste Jahr.
Der Rest ist Geschichte. Statt einer exotischen Destination ging die Reise von Kreuzberg nach Laach. Doch die Liste der zu feiernden Hochzeitstage ist noch lang, ebenso wie die der Reiseziele. Jörg Pöstges hat das auch eine Idee: „Hawaii“ kann er sich als nächste Örtlichkeit für ein erneutes Ehegelübde gut vorstellen, und auch die Figuren auf der Hochzeitstorte sind bereits vorbereitet: Statt Brautkleid und Anzug tragen sie legere Urlaubskleidung inklusive einem gepackten Rollkoffer. Die Zeichen sind eindeutig.