Bilanz und Kritik von Hilfsorganisationen am Bürokratismus beim Wiederaufbau in den Flutgebieten
Hilfsorganisationen kritisieren Bürokratismus: 10 Prozent der Flutbetroffenen noch immer ohne Hilfe
Deutschlandweit sind mehrere Hundert Malteser im Einsatz, um Feuerwehr und Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Das war auch bei der Flutkata-strophe im Ahrtal der Fall. Foto: Malteser Hilfsdienst/Dirk Moll
Dirk Moll für Malteser Hilfsdie

Der Flut-Bundesbeauftragte schätzt, dass rund 10 Prozent der Flutbetroffenen noch keinerlei Hilfe erreicht hat – weder die staatliche noch die von 15 Bündnisorganisationen, die unter dem Dach der Aktion Deutschland Hilft arbeiten. Woran das liegen kann.

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Deutschlandweit sind mehrere Hundert Malteser im Einsatz, um Feuerwehr und Polizei bei ihrer Arbeit zu unterstützen. Das war auch bei der Flutkata-strophe im Ahrtal der Fall. Foto: Malteser Hilfsdienst/Dirk Moll
Dirk Moll für Malteser Hilfsdie

Knapp zwei Jahre nach der Flutkatastrophe in Nordrhein-Westfalen und Rheinland-Pfalz hat etwa der Malteser Hilfsdienst (MHD) erst 1400 Anträge von Betroffenen auf „Einzelfallhilfe“ vorliegen.

Hilfsorganisationen können Lücke füllen

Hintergrund: Die Investitions- und Strukturbank Rheinland-Pfalz (ISB), die die Fluthilfezahlung für nicht versicherte Flutbetroffene auch im Ahrtal managt, berichtet landesweit von 11.840 Anträgen auf Hausratshilfe und 3222 Anträgen auf die 80-prozentige Wiederaufbauhilfe für Gebäudeschäden. Dabei können Hilfsorganisationen wie die Malteser mit Geld aus dem mit 283 Millionen Euro gefüllten Spendentopf der Aktion Deutschland Hilft (ADH) diese 20-prozentige Finanzierungslücke und Lücken bei privat Versicherten stopfen. Rund 24 Millionen stehen laut Wolfgang Heidinger, Flut-Bundesbeauftragter, alleine beim MHD für die Bürger bereit.

Heidinger schätzt sogar, dass – mehr in der Eifel als an der Ahr – rund 10 Prozent der Flutbetroffenen noch gar keine Hilfe erreicht hat – weder die staatliche noch die von den 15 Bündnisorganisationen, die unter dem Dach der ADH arbeiten. „Wir versuchen nach wie vor und noch lange auf allen Kanälen, die Leute zu erreichen.“ Außer über die „Aufsuchende Hilfe“ noch über Flugblätter, Infotreffs oder Einrichtungen wie den öffentlichen Waschsalon „Waschbar“ in Bad Neuenahr. Es gehe um grundsätzliche Informationen und darum, klarzumachen, dass jeder ohne Scham die ihm zustehende Unterstützung beantragen kann. Dr. Jürgen Clemens von der Stabsstelle der ADH-Hochwasserhilfe bestätigt Heidingers Einschätzung mit Berichten aus den „Flutkonferenzen“, in denen er mit Bündnisorganisation regelmäßig zusammenkommt.

Anträge sind zu kompliziert

Die Johanniter haben acht Millionen für die „Einzelhilfe“ bereitgestellt, so Anne Ernst, Bereichsleiterin Krisenmanagement/Notfallhilfe, bei einem Bilanzgespräch im ADH-Sitz in Bonn. Wie alle haben auch die Johanniter die Erfahrung gemacht, dass die Menschen in den Flutgebieten, wenn sie denn erreicht wurden, nicht in der Lage sind, die komplizierten Anträge – auch die staatlichen – allein zu bearbeiten. Immer wieder muss zeitaufwendige Unterstützung geboten werden.

Fluthilfe-Zwischenbilanz bei der ADH in Bonn: ADH-Sprecher Jan Brockhausen (von links), Anne Ernst (Johanniter), Wolfgang Heidinger (Malteser). Dr. Markus Bremers (action medeor), Tanja Rerich (ADH), Sandra Schiller (help) und Dr. Jürgen Clemens (Stabsstelle Hochwasserhilfe der ADH). Foto: Frank Bugge
Frank Bugge

Die action medeor hatte in Kalenborn im Container eine Apotheke für Altenahr eingerichtet, die jetzt ihren Sitz nach Ahrbrück verlegt hat. In Kalenborn finanziert die Hilfsorganisation aus Spendengeldern psychosoziale und psychotherapeutische Angebote mit drei Therapeuten, berichtete Dr. Markus Bremers. „Die traumatisierten Menschen werden vermutlich noch zehn bis 15 Jahre diese Unterstützung brauchen.“ Das gelte für Kinder, Jugendliche und Senioren, die Boomer-Generation, oder junge Familien, „die langsam ans Ende ihrer Kräfte kommen“. Obwohl die Betreuung auch andernorts ausgebaut werde, reiche sie nicht aus, denn sechs Monate Wartezeit für einen Termin seien nicht hinnehmbar.

Klare Struktur fehlt

Einig sind sich alle Helfer in ihrer Kritik am Bürokratismus. Für die derzeitige Phase der Katastrophenbewältigung gebe es auch von Staats wegen keine klare Struktur und Aufgabenverteilung zwischen staatlichen Institutionen, Hilfsorganisationen oder auch freiwilligen, ungebundenen Helfern. Die ADH-Organisationen koordinieren sich und ihre Angebote selbst, meist eng mit den Ortsbürgermeistern. Die und ihre Gemeinderäte und Verwaltungen haben aber ebenso keinen Fahrplan für Krisenbewältigung und stecken mit ihrem Wiederaufbau selbst im Planungs- und Verfahrensdickicht der Bürokratie, beschreibt Dr. Clemens und verweist darauf, dass es bei Auslandseinsätzen oft bessere Koordinierungsstrukturen gibt.

Gutachter-, Planer- und Handwerkermangel, Engpässe und Kostensteigerungen bei den Baumaterialien kommen überall obendrauf, ergänzte Dr. Bremers und beschrieb die Folgen: „Solange dieser Zustand anhält, kommen die Leute in unsere Praxen.“

Action medeor liefert ein Beispiel für paradoxe Situationen im Ahrtal: Da nicht absehbar ist, wann auf dem ehemaligen Sportplatz in Mayschoss am anderen Ahrufer von der Kommune ein Kleinspielfeld gebaut werden kann, wird aus Spendengeld ein Übergangsplatz bei Laach gebaut. „Die Geräte werden später zum endgültigen Platz mitgenommen und weiter genutzt.“

Die Bündnisorganisation der ADH

action medeor, Adra, Arbeiter-Samariter-Bund, Arbeiter Wohlfahrt, Care Deutschland, Habitat für Humanity Deutschland, Help – Hilfe zur Selbsthilfe, Islamic Relief Deutschland, Johanniter Unfall Hilfe, Malteser Hilfsdienst, Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland. Der Paritätische Gesamtverband mit arche noVa, Bundesverband Rettungshunde, Freunde der Erziehungskunst Rudolf Steiners, Hammer Forum, Handicap International, HelpAge Deutschland, Kinderhilfswerk Global-Care, Landsaid, Solidaritätsdienst International, Terra Tech. fbu

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