Bürgermeister Guido Orthen zum Wiederaufbau: Kreisstadt hat noch herausfordernde Jahre vor sich - Bitte um Rücksichtnahme und Geduld
Guido Orthen: „Ich bin stolz auf die Menschen in Bad Neuenahr-Ahrweiler“
Im Hochwasserschutz voranzukommen, ist aus Sicht von Bürgermeister Guido Orthen entscheidend für den Wiederaufbau. Immer vor Augen: die Karte von Bad Neuenahr-Ahrweiler, die die Überflutungsgebiete des Hochwassers 2021 darstellt. Foto: Hans-Jürgen Vollrath
Hans-Jürgen Vollrath

Bad Neuenahr-Ahrweiler. Wieder geht ein Jahr nach der Flut zu Ende. Es war auch in Bad Neuenahr-Ahrweiler geprägt vom schwierigen Wiederaufbau. Die Menschen sehnen sich nach Normalität, doch die Infrastruktur besteht zum großen Teil noch aus Provisorien. Der Rückblick von Bürgermeister Guido Or-then enthält die Botschaft: Es geht voran, aber es dauert.

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Im Hochwasserschutz voranzukommen, ist aus Sicht von Bürgermeister Guido Orthen entscheidend für den Wiederaufbau. Immer vor Augen: die Karte von Bad Neuenahr-Ahrweiler, die die Überflutungsgebiete des Hochwassers 2021 darstellt. Foto: Hans-Jürgen Vollrath
Hans-Jürgen Vollrath

Bagger- und Bohrgeräusche sind allgegenwärtig in der Kreisstadt. Dennoch geht der Wiederaufbau vielen zu langsam. Wo stehen wir zum Ende des Jahres?

Das Jahr war sehr arbeitsreich, und einem kommen immer Dinge in den Sinn, bei denen man gern schon weiter wäre. Aber wenn man ganz objektiv betrachtet, wo wir vor einem Jahr standen und was seither geschafft wurde, bin ich stolz auf die Menschen in der Stadt. Aber auch auf die ehrenamtlichen Mandatsträger, die Ehrenamtlichen in den Vereinen und auf die Kolleginnen und Kollegen der Stadtverwaltung. Die Spielplätze sind fast alle wieder benutzbar und teils schöner als vorher. Die Turnhalle der Grundschule Ahrweiler ist schon wieder in Betrieb.

Bei den anderen Schulen in Trägerschaft der Stadt ist die Benutzbarkeit der Hallen absehbar. Die Parkanlagen laden wieder zum Spazierengehen ein, und immer mehr Geschäfte kehren in ihre oder gar neue Ladenlokale zurück. Das macht Mut, und auch, dass in der Stadt wieder Weihnachtsmarkt und Uferlichter stattfinden, ist ein ganz wichtiges Zeichen. Worüber ich mich am meisten freue, ist, dass immer mehr Menschen wieder in ihre eigenen vier Wände zurückkehren können. Alles, was in der Stadt passiert, was die Lebensqualität wieder erhöht und Freude bereitet, ist unendlich wichtig.

Welche Etappen des Fahrplans im Wiederaufbau sind absolviert, welche hat die Stadt noch vor sich?

Wichtig ist zunächst, dass der Wiederaufbau in der Gesamtbetrachtung ein Prozess ist. Aber natürlich gibt es jeweils Schwerpunkte. Die ersten Monate standen klar im Zeichen der unmittelbaren Katastrophenbewältigung: Infrastruktur wiederherstellen, Versorgungsstrukturen aufbauen, Provisorien schaffen.

Insbesondere das Schaffen von Provisorien, die wichtig sind, um auch bis zum dauerhaften Wiederaufbau Leben in der Stadt zu ermöglichen, haben sich mit in die nächste Phase gezogen, in der wir uns derzeit befinden. Eine Phase im Zeichen der grundsätzlichen Entscheidungen, eine Phase der Klärung ganz wesentlicher Vorfragen – etwa zum künftigen Verlauf der Ahr – und in Teilen auch eine Phase der Planung. Auch wenn uns Planungen noch viele Jahre beschäftigen werden, müssen wir im kommenden Jahr sehr intensiv in die Phase der Umsetzung kommen.

Wie viele Einzelmaßnahmen umfasst der Wiederaufbaukatalog der Stadt? Wie viele sind bereits beantragt, wie viele stehen noch aus und warum?

Der Maßnahmenplan zum Wiederaufbau umfasst rund 1450 Einzelmaßnahmen. Hiervon sind etwas mehr als 80 Maßnahmen beim Fördergeber beantragt. Bereits daran wird deutlich: Die meiste Arbeit liegt noch vor uns. Die Ursache für diese vergleichsweise kleine Anzahl an Anträgen ist, dass die Antragsstellung erst erfolgen kann, wenn der Planungsprozess schon recht weit fortgeschritten ist. Es gibt also eine Vielzahl an Maßnahmen, die bereits in Bearbeitung sind und die für einen Antrag erforderlichen Unterlagen noch nicht vorliegen.

Hinzu kommt, dass ein sehr großer Teil unserer Einzelmaßnahmen Tiefbaumaßnahmen, also zum Beispiel Straßen, Wasserleitungen oder Kanäle, sind. Hier kann man in eine Planung erst sinnvoll einsteigen, wenn die Schäden bekannt sind, die bei den Kanälen naturgemäß unter der Erde liegen. Hier werden derzeit umfassende Kanal-Kamera-Befahrungen durchgeführt, deren Ergebnisse mit entsprechenden Sanierungskonzepten im Frühjahr vorliegen werden. Und dann geht es auch hier intensiv in den Prozess der Planung und der Förderantragsstellung.

Wie viele Millionen Euro hat die Stadt seit der Flut aufgewendet und investiert? Mit wie vielen Millionen oder gar Milliarden Euro an Kosten rechnen Sie für den Wiederaufbau?

Direkt nach der Flut wurden immense Summen für die Aufräumarbeiten und erste Sanierungen sowie Provisorien ausgegeben. Bis Ende 2021 waren dies bereits rund 25 Millionen Euro, die nur zu etwa 20 Prozent über die Soforthilfe des Landes erstattet wurden. Alles andere zählt nach der Förderrichtlinie VV Wiederaufbau bereits zu möglichen förderfähigen Maßnahmen des Wiederaufbaufonds, für die dann in sehr kurzer Zeit ein entsprechender Maßnahmenplan aufgestellt wurde.

Insgesamt summieren sich die Aufwendungen und Investitionen der Stadt samt der Eigenbetriebe Wasserwerk und Abwasserwerk in den vergangenen 18 Monaten auf rund 70 Millionen Euro, die in großen Teilen über Kassenkredite vorfinanziert werden müssen, da erst nach Bewilligung der Förderanträge Mittel vom Land angefordert werden können.

Insgesamt gehen wir in unserem Maßnahmenplan von einem Gesamtschadensvolumen von 1,7 Milliarden Euro aus. Es deutet einiges darauf hin, dass wir am Ende unter dieser Summe landen werden, aber es bleibt ein unbeschreiblich dickes Brett, das es in den nächsten Jahren zu bohren gilt.

Woher genau kommt das Geld? Was muss die Stadt selbst finanzieren?

Die Mittel für den Wiederaufbau kommen aus dem Aufbaufonds, der vom Bund und allen Bundesländern hälftig finanziert wird. Hier ist der Regelfall eine 100-Prozent-Finanzierung, sodass in der Theorie kein städtisches Geld für den Wiederaufbau aufgewandt werden muss. Hier bleibt es aber bei der Theorie, da es natürlich bei nahezu jedem Projekt irgendetwas gibt, was dann doch im Einzelfall nicht unter Wiederaufbau zu fassen ist.

Wir wollen ja nicht einfach eins zu eins wieder aufbauen, sondern wir wollen aus dem Geschehenen lernen und Sachen besser machen. Das geht aber häufig über das hinaus, was der Wiederaufbaufonds finanziert. Hier ist viel Überzeugungsarbeit nötig, und unser Bestreben ist es natürlich, sinnvolle Veränderungen oder Verbesserungen auch finanziert zu bekommen. Aber man darf sich keine Illusionen machen: Das wird nicht immer gelingen, die Stadt wird am Ende in erheblichem Umfang mit eigenen Mitteln einstehen müssen. In welchem Umfang, das lässt sich jedoch noch nicht seriös abschätzen.

Erklären Sie an einem griffigen Beispiel, warum Wiederaufbau nicht von heute auf morgen funktioniert – etwa beim Straßenbau …

Ich hatte es erwähnt: Bevor man in die Planung einer Straße einsteigen kann, muss man wissen, wie die Leitungen in der Erde aussehen. Was muss am Kanal gemacht werden? Was muss an der Wasserleitung gemacht werden? Und es waren rund 130 Kilometer Kanalnetz in der Stadt überflutet – da dauert die Schadensaufnahme einfach sehr lange. Aber wir können nicht erst die Straße wiederherstellen und dann zu der Erkenntnis kommen: Der Kanal muss erneuert werden. Die Arbeiten müssen von unten nach oben erfolgen. Privat würde auch niemand das Wohnzimmer tapezieren und anschließend Schlitze für neue Steckdosen schlagen.

Vereinzelte Maßnahmen stoßen auf Skepsis in der Bevölkerung. Spüren Sie, dass die Ungeduld wächst?

Natürlich spüre ich das, und ich habe dafür auch Verständnis. Die Situation ist belastend für alle Menschen in der Stadt, und wenn man dann den Eindruck bekommt, dass es nicht vorangeht oder falsche Prioritäten gesetzt werden, dann kann das zu Unverständnis oder Verärgerung führen. Das ist menschlich. Wir versuchen natürlich, durch möglichst gute Information darüber aufzuklären, warum Dinge geschehen oder auch nicht geschehen.

Aber es ist völlig klar, dass uns das bei der schieren Anzahl an Maßnahmen und der daraus resultierenden Unübersichtlichkeit nie so gut gelingen kann, dass sich jeder immer bei allen Themen ausreichend mitgenommen fühlt. Aber ob es uns gefällt oder nicht: Der Wiederaufbau wird Jahre dauern. Und was wir bisher an Einschränkungen wahrnehmen, ist erst der Anfang. Nennenswerte bauliche Maßnahmen an der öffentlichen Infrastruktur – insbesondere im Bereich der Straßen – haben ja noch gar nicht begonnen. Wir werden herausfordernde Jahre vor uns haben, die uns eine Menge gegenseitiges Verständnis, Geduld und Rücksichtnahme abverlangen.

Wie gehen Sie persönlich mit Erwartungen der Menschen um, die zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht erfüllt werden können – und mit dem daraus entstehenden Frust, der bei Ihnen abgeladen wird?

Das kommt sehr darauf an, um was es geht und wie der Frust geäußert wird. Für vieles, was die Menschen stört und was dann an die Stadt herangetragen wird, habe ich Verständnis. Und das im Übrigen unabhängig davon, ob den Anliegen abgeholfen werden kann oder nicht. Und unabhängig davon, ob die Anliegen aus meiner Sicht berechtigt sind oder nicht.

Es gibt aber zunehmend auch geäußerte Erwartungen, die erkennbar nicht in die Zeit passen.Bei denen sehr fraglich ist, ob der Absender oder die Absenderin begriffen hat, was hier im Juli 2021 passiert ist und welche Folge sich daraus für die Stadt, die hier lebenden Menschen und die Stadtverwaltung ergeben. Anliegen, bei denen offensichtlich ist, dass hier individuelle Interessen über die Interessen der Allgemeinheit gestellt werden.

Nach allem, was wir Mitte Juli 2021 und in der Zeit danach erlebt und durchlebt haben, welches unglaubliche Engagement unzähliger Menschen in den Dienst der Gemeinschaft gestellt wurde, welche persönlichen Dramen viele zu erleiden hatten, und nachdem eigentlich jedem klar geworden sein müsste, welchen Wert die gelebte Solidarität hatte und noch immer hat, fällt es unendlich schwer, Egoismus zu ertragen. Und da fällt es mir bisweilen schwer, in der Reaktion die Contenance zu wahren.

Sie haben den Wiederaufbau weitgehend in die eigene, städtische Hand genommen. Dennoch: Hätten Sie sich mehr oder andere Unterstützung durch den Kreis und/oder das Land gewünscht?

Die Diskussionen mit Land und Bund, insbesondere was die Rahmenbedingungen des Wiederaufbaus angeht, waren streckenweise schon zermürbend. Wir hatten nicht immer den Eindruck, dass es in Mainz und Berlin ausreichend Verständnis für die Situation vor Ort gibt. Weder vom Bund noch vom Land hat es signifikante personelle Unterstützung gegeben. Aber wir wollen nach vorn blicken. Und da machen die angekündigten Erleichterungen bei den Verfahren und andere Rechtsänderungen, die uns weiterhelfen werden, zuversichtlich. Natürlich gibt es noch immer Aspekte, in denen wir Änderungen für erforderlich halten. Beispielsweise bei der Zuständigkeit und den Verantwortlichkeiten in finanzieller Hinsicht, was den Hochwasserschutz anbetrifft. Die brauchen wir bis heute dringend.

Aber diese Diskussionen dürfen nicht mehr unseren Arbeitsalltag bestimmen, wie das in der Vergangenheit bisweilen leider der Fall war. Das Land tritt aktuell mehr als Partner der Kommunen auf, als dies in der Vergangenheit der Fall war. Vom Kreis wünsche ich mir, dass er seine Rolle im Wiederaufbau schnell findet und den Kommunen sowohl in der Koordinierung von Anliegen, Fragestellungen und Interessen, die alle berühren, als auch insbesondere als Baugenehmigungsbehörde für die Privaten wie für die Kommunen eine Hilfe sein kann.

Gewöhnt man sich eigentlich an die Zerstörungen, an die dauernden Improvisationen nach der Flut?

Daran möchte ich mich nicht gewöhnen. Wenn man mehr als ein halbes Jahrhundert in dieser Stadt gelebt und Jahrzehnte für diese Stadt gearbeitet hat, gewöhnt man sich nicht an die derzeitige Situation. Aber man lernt natürlich ein wenig, damit umzugehen. Insbesondere in der Hoffnung, in dem festen Willen, dass es wieder aufwärts geht. Dass die Zerstörung schon bald nicht mehr allgegenwärtig ist und wir in einigen Jahren sagen können: Was passiert ist, ist nicht vergessen, wird nicht vergessen. Aber wir haben wieder eine sehr lebenswerte Stadt, und manches ist besser, schöner, angenehmer als vorher. Dieser Antrieb ist es, der mich nicht verzagen lässt und der mir auch hilft, mit den derzeitigen Umständen zu leben.

Was sind die für Sie drei wichtigsten Entscheidungen, die 2022 getroffen wurden?

Diese Frage ist nicht leicht zu beantworten, weil wir so unendlich viele Entscheidungen treffen mussten. Und bei vielen dieser Entscheidungen werden wir möglicherweise erst in Jahren wissen, ob sie richtig waren. Aber wenn ich einzelne Entscheidungen herausgreifen soll, wären hier zunächst die Entscheidungen rund um die Wiederherstellung des Ahrufers zu nennen. Also die Absprache mit Land und Kreis, wer sich in welchen Abschnitten um die Wiederherstellung der Ahr kümmert und welche Rahmenbedingungen hierbei zugrunde gelegt werden müssen. Das war ganz entscheidend, weil hiervon viele andere Projekte direkt oder indirekt abhängen.

Als zweiten Punkt sind unsere organisatorischen Entscheidungen innerhalb der Stadtverwaltung und in Bezug auf die Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft sowie die Ahrtal und Bad Neuenahr-Ahrweiler Marketing GmbH zu nennen. Dadurch sind die Grundsteine dafür gelegt, dass der Wiederaufbau mit größerer Effizienz erfolgen kann und die Aufgaben klarer verteilt sind und werden.

Wir waren dadurch in meinen Augen schon früh strukturiert arbeitsfähig, und das wird sich hoffentlich im kommenden Jahr auszahlen. Und von ganz elementarer Bedeutung war natürlich die jüngste Entscheidung von Land und Bund, die Antragsfrist für den Wiederaufbau um drei Jahre bis Mitte 2026 zu verlängern. Das ist nicht nur für viele private Flutbetroffene eine große Hilfe. Es ist insbesondere die Voraussetzung dafür, dass der Aufbau der kommunalen Infrastruktur überhaupt gelingen kann. Hier hat sich das Bohren dicker Bretter ausgezahlt.

Was muss im Jahr 2023 unbedingt passieren?

Beim Wiederaufbau müssen wir intensiv in die bauliche Umsetzung einsteigen. Es muss an allen Ecken und Enden erkennbar werden, dass der Wiederaufbau im Gange ist. Bei allen Einschränkungen und Beschwerlichkeiten, die das mit sich bringen wird, ist mir das sehr wichtig, damit allgegenwärtig ist, dass es vorangeht. Auf der politischen Ebene ist es aus meiner Sicht entscheidend, dass wir tragfähige rechtliche und tatsächliche Rahmenbedingungen schaffen, um beim Hochwasserschutz an der Ahr zügig voranzukommen.

Hier liegt die Zuständigkeit derzeit bei den Städten und Verbandsgemeinden – auch in finanzieller Hinsicht. Wenn man sich den Wassereinzugsbereich der Ahr ansieht, erkennt man schnell: Das ist nicht sachgerecht. Und wenn man überlegt, welche Anstrengungen hier nach den schrecklichen Erfahrungen des Juli 2021 erforderlich sind, ist klar: Die aktuelle Regelung ist Irrsinn. Wir müssen dazu kommen, dass eine übergreifende Planung koordiniert und eine Einbindung in diese Koordination verpflichtend wird.

Insbesondere muss die Zuständigkeit für die Finanzierung der Maßnahmen auf das Land übergehen. Städte und Gemeinden werden diese Aufgabe nicht erfüllen können. Es wird die klare Erwartungshaltung der Bevölkerung deutlich werden, dass Maßnahmen sichtbar werden. Diese Erwartung muss der Staat ohne Rücksicht auf die aktuelle Zuständigkeitsverteilung erfüllen. Dafür brauchen wir Lösungen, da stehen alle gemeinsam in der Verantwortung.

Die Fragen stellten Michael Stoll und Beate Au

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