Dort trifft er auf Alexander und Gabi Zimmermann, die Inhaber des Helfer-Hotels Kalenborner Höhe, und den Trompeter vom Ahrtal, Franz Josef Graf, aber ebenso auf Menschen wie Dirk Neetling, Ingenieur aus Essen, der jede Woche mit „Wäller Helfen“ im Ahrtal ganz praktisch anpackt, um die Not zu lindern.
Im Ahrtal gibt es aktuell nur ein eintöniges Hämmern
Darin schildert er seine Eindrücke und auch, warum es ihn seit zehn Wochen immer wieder als Helfer in das Ahrtal zieht, das vor drei Monaten von der Naturkatastrophe getroffen wurde. Seinen ganz persönlichen Bericht gibt Björn Flick den RZ-Lesern gerne zur Lektüre. Er arbeitet „normalerweise“ als Pflegedienstleiter beim Deutschen Roten Kreuz der DRK-Sozialstation.
„Das Geräusch von kleinen und großen Stemmgeräten schallt von Ahrweiler bis Mayschoss ununterbrochen durchs offene Fenster meines Transporters. Staub und Dreck fliegen ohne Pausen durch die Luft und zwingen mich immer wieder, das Fenster zu schließen. Dieser kurze Moment von Stille, diese Pause vom ständigen Hämmern, lässt einen, wenn auch nur kurz, wieder nachdenken.
Die surreale Welt im Ahrtal beeindruckt mich nach nun mehr als zehn Wochen immer noch. Jede Woche fahre ich durch die Straßen der Orte Ahrweiler, Marienthal, Dernau, Rech und Mayschoss, seit zehn Wochen bin ich regelmäßig vor Ort. Mittlerweile kennt man sich, trifft auf gewohnte Gesichter, immer und immer wieder. Wer einmal in der Region geholfen hat, muss immer wieder dorthin. Ich kann und will die Menschen dort nicht ihrem Schicksal überlassen.
Kinder sieht man so gut wie keine in den immer noch stark verdreckten Straßen des Ahrtals. Hin und wieder spielen vereinzelt welche an den neu geformten Flussläufen der Ahr. Knapp 60 Zentimeter hat die Ahr in ihrem Bett und fließt friedlich dahin. Was hier noch an den Stand der Ahr vor zehn Wochen erinnern lässt, das sind die braunen Streifen an den Häuserwänden.
Ich liefere Schlafzimmer, Wohnzimmer, Küchenteile, Öfen, Radiatoren, Werkzeuge oder Lebensmittel und speziell bestellte Dinge des täglichen Lebens in Privathaushalte, aber auch an die Ausgabestellen für Betroffene. Es gibt so gut wie keine funktionierenden Lebensmittelmärkte, Bäckereien oder Metzgereien in den kleinen Orten. An allen Ecken stehen Food Trucks, freiwillige Caterer oder Imbissbuden.
Tante-Emma-Laden ist mehr als reines Versorgungszentrum
Die Menschen sind auf den Tante-Emma-Laden, so heißt der Laden in Dernau, angewiesen. Hier gibt es alles, von Hammer, Nägeln, Stemmeisen bis zu Teebeutel, Hefe, Backpulver, Wurst und Käse – und auch Benzin. Denn Tankstellen gibt's aktuell auch keine mehr. Die Anlaufstellen dienen auch dem Austausch, dem „Schwätzjen halten“, der Dorfkommunikation. Gaststätten, Weinhäuser, Biergärten, Orte der Freude, des Austauschs, der Kultur: Alles ist weg! Hier wird gelacht, hier wird geweint, hier nehmen sich wildfremde Menschen in den Arm. So auch ich, als ich wieder mal am Tante-Emma-Laden die bestellten und von einer Bäckerei gestifteten Kaffeebecher abgebe. Die Dankbarkeit der Menschen ist einfach unbeschreiblich. Das war für mich der Anlass dazu, nochmals mehr zu tun und in meinem Urlaub drei Tage lang im Ahrtal zu wohnen.
Gardinen wehen durch die zerstörten Geistersiedlungen
Montags um 7 geht es los, der Bus unseres Vereins ist bis unter das Dach voll mit zwei Esszimmern. Der erste Halt ist Sinzig. Hier fließt die Ahr als kleiner Fluss an einem Wohngebiet vorbei. Unbeschreiblich ist, was mir plötzlich klar wird: Das Siedlungsgebiet mit mehreren Hoch- und Reihenhäusern sieht völlig ausgestorben aus. Aus allen Erdgeschosswohnungen wehen die noch hängenden Gardinen durch die zerstörten und offenen Fenster. Hier kann doch niemand mehr wohnen, denke ich.
Ein völlig verstörter und einsamer Mann kommt auf mich zu. „Bringst Du die Couch?“, ruft er schon von Weitem und zeigt mir seine völlig entkernte Wohnung. Das Wasser stand bis in den zweiten Stock, überschwemmte seine Wohnung völlig. Schnell ist klar, in diese Wohnung können wir nichts stellen. Der Mann zeigt mir seine Garage, darin ist alles, was er gerettet hat. Es passt in den Kofferraum eines handelsüblichen Kombis. Ich helfe ihm, die Garage aufzuräumen, damit die für ihn so lang ersehnte Schlafcouch Platz hat. Wo er im Augenblick schläft, dass will mir der Mann wahrscheinlich aus Scham nicht sagen, aber er ist dankbar und freundlich, dass wir ihm helfen konnten.
Mit dem Esszimmer, das noch im Bus ist, geht die Tour weiter nach Dernau in ein Weingut. Auch hier werde ich schon erwartet. Als ich die Tür des Busses öffne, staunt der Inhaber nicht schlecht. „Das sieht ja aus wie neu“, schluchzt er, und ich merke, dass er sich zusammenreißen muss, um nicht loszuweinen. Ich helfe ihm beim Reintragen. Wir laufen durch Schutt und Estrich. Der Boden des Weingutes, das vermutlich mal ein Gastraum war, riecht feucht, modrig. „Hier ist alles hin“, sagt der Mann immer und immer wieder, „aber wir geben nicht auf.“ Er zeigt mir das gesamte Haus, und man kann sehen, dass hier fleißig renoviert wurde. „Ich wohne selbst in dem einzigen Zimmer, das ich noch habe, im zweiten Stock“, erklärt er mir. „Ich hätte es Dir sofort gegeben, aber ich brauche es im Moment selbst.“ Dann ruft der Mann einen Bekannten an, der noch ein Gästezimmer hat, obwohl auch bei ihm alles von der Flut zerstört wurde. „Wir sind so dankbar, dass Woche für Woche immer wieder Helfer kommen. Wir schaffen das nicht allein“, gibt er mir mit auf den Weg.
Wenige Stunden Normalität bei einem Weinfest
Das zweite Esszimmer fahre ich nur eine Straße weiter. Etwas verspätet öffnet die Frau die Tür: „Sorry, wir hatten gestern Weinfest“, erklärt sie mir stolz. Mitten in einem völlig zerstörten Ort gab es eines der ersten Weinfeste im Ahrtal. „Wenige Stunden Normalität“, sagt sie, „einfach mal an nichts denken, ein Bier oder einen Wein trinken, einfach so wie früher.“ Wir schleppen das Esszimmer in den zweiten Stock, alle anderen Etagen sind in Dernau nicht bewohnbar.
Aus allen Ecken klingt immer wieder dieses eintönige Stemmgeräusch der Arbeitsgeräte, es hört einfach nicht auf. Weiter geht meine Tour nach Nettersheim zu unseren Netzwerkpartnern von „Eifel für Eifel“. Den Rest des Tages verbringe ich bei einer Ausgabestelle für Lebensmittel für Betroffene, ähnlich dem Tante-Emma-Laden in Dernau. Ich beliefere zwei große Versorgungsstellen mit Lebensmitteln. Die Dachzeltnomaden haben sich in einer alten Schule eingerichtet. Unter der Woche leben und wohnen hier etwa 50 Personen, am Wochenende sind es bis zu 150, erklären mir die Verantwortlichen beim Ausladen mehrerer 100 Kilo Obst, Gemüse, Fleisch und Getränken.
Pfirsiche, frische Pfirsiche – zum ersten Mal seit zehn Wochen
Zurück in Nettersheim wartet schon die zweite Einsatzfahrt auf mich. Die Lieferung geht an den Verein „Die Ahrche“, ebenfalls eine privat organisierte Netzwerkgruppe, die ihr Lager direkt an der Ahr in Ahrweiler aufgeschlagen hat. Von hier wird beispielsweise das Projekt „Wärme fürs Ahrtal“ organisiert. Hier gibt es alles: Friseur, Physiotherapeuten, Elektriker, Koch, Arzt, Seelsorger – einfach alles. Die Freude ist groß. „Pfirsiche, frische Pfirsiche“, sagt die Helferin beim Ausladen meiner Lebensmittelkartons, „die haben wir in den letzten zehn Wochen noch nie gehabt.“
Wieder komme ich ans Schlucken. Alles, was gerade für uns so selbstverständlich ist, ist hier an der Ahr immer noch grade so surreal. Herzlich und mit einer Umarmung bedanken sich auch hier wieder wildfremde Menschen bei mir. Lange rede ich noch mit den Menschen hier vor Ort, um annähernd ein Gefühl für deren aktuelles Befinden zu bekommen. Mein Fazit: Entweder stecken es mittlerweile alle gut weg, oder die Menschen sind immer noch in einer Schockstarre.
In einer kleinen Pension 15 Kilometer von Ahrweiler finde ich endlich eine Übernachtungsmöglichkeit. Hier übernachten viele Helfer, Bagger- und Lkw-Fahrer. „Wir müssen abends das Tal verlassen“, bestätigt mir ein Fahrer. „Der Abstand ist wichtig. Abends, das ein oder andere Bier, das muss sein, wir schaffen das sonst nicht.“
Der zweite Tag meiner Urlaubs-Einsatztour führt mich zum „Helfer Shuttle“ nach Grafschaft. Das ist ebenfalls ein privat organisiertes Helfer-Koordinierungszentrum. Wir kennen uns seit mehr als zehn Wochen, doch gesehen haben wir uns hier noch nie. Über die digitalen Medien haben wir unsere verschiedenen Hilfseinsätze koordiniert: Unbürokratisch, ohne viel Tamtam, einfach helfen, das ist die Devise. Hier wurden in den vergangenen Wochen mehrere 100.000 Helfer ins Ahrtal gebracht. Hier gibt es einen „Baumarkt“, in dem die Helfer morgens ihr Werkzeug bekommen, welches zum Großteil gespendet wurde.
Es wird immer noch Dreck und Schlamm geschaufelt
Ich habe meinen Job gefunden: Die vielen Busse transportieren die Helfer nach Ahrweiler – und ich transportiere unzählige Schubkarren, Stromaggregate, Schaufeln, Hacken, Schippen und Kanister dorthin. Als ich um 9 Uhr durch die Straßen nach Ahrweiler fahre, ist das eintönige Stemmhammergeräusch wieder da. Ich hatte es fast über Nacht vergessen. Es zieht sich durch die ganze Stadt, wird im Verlauf mancher Straßen leiser, aber hinter der nächsten Kurve ist es wieder mit voller Lautstärke da. Es geht einem mittlerweile durch Mark und Bein.
Einsatzort ist ein Parkhaus in Ahrweiler, hier werden immer noch Dreck und Schlamm geschaufelt. Nachdem alle Helfer an ihren Einsatzorten und mit Werkzeug versorgt sind, läuft die Catering- und Versorgungsmaschinerie am Shuttlepoint an. Ich bringe mehrere 100 Kisten Leergut weg und knapp 100 verschiedene Kisten von allen möglichen Spenden aus allen möglichen Regionen Deutschlands.
Alle wollen nur eins: Helfen – gearbeitet wird Hand in Hand
Den ganzen Tag kommen und gehen hier am Helfer-Shuttle Menschen aller Regionen, aller Hautfarben und aller Länder an. Hier verstehen sich alle, hier fällt kein böses Wort, denn alle haben hier das gleiche Ziel: zu helfen. „Ich habe mir extra Urlaub genommen“, erklärt mir ein Helfer aus Hamburg. Ein anderer hat sogar von seinem Chef drei Tage Sonderurlaub bekommen, um anzupacken. Andere wohnen seit Wochen im Zelt oder Wohnmobil auf den Wiesen rund um den Shuttle Point in der Nähe des Haribogeländes. Hier gibt es Duschen, Toiletten, Waschmaschinen und alles für den täglichen Bedarf – organisiert von Ehrenamtlichen. Der Baumarkt wird von einem „Rentnerteam“ geleitet. Alles, was zurückkommt, wird gereinigt, repariert oder aussortiert. „Es geht hier Hand in Hand“, erklärt mir Lutz, einer der Verantwortlichen im Baumarkt.
Die Dankbarkeit der Menschen und deren Not infizieren jeden
Ich bekomme meinen letzten Auftrag für diesen Tag und soll das Material vom Parkhauseinsatz wieder zurückholen. Ich fahre wieder die Weinberge runter nach Ahrweiler. Die Sonne taucht die Weinberge in eine friedvolle Abendstimmung. 100 Meter weiter holen mich der Dreck auf der Straße und die Schutthaufen in den Gassen wieder ins wahre Ahrtalleben zurück. Ich fahre die Behelfsbrücke der Bundeswehr über die Ahr. Da stehen mehr als 50 Helfer in der Gruppe zusammen und lassen den Tag Revue passieren, viele sind in Schweigen gehüllt. Doch als sich der Leiter vom Orgateam bedankt, klatschen alle und umarmen sich, weil wieder ein kleines Projekt vorangebracht werden konnte. „Morgen müssen wir wieder hin“, sagt mein Beifahrer vom Vormittag, „wir haben es heute mit unseren 50 Helfern nicht geschafft“.
Nachdem ich die Schubkarren und das gesamte Werkzeug im Baumarkt „Helfer Shuttle“ ausgeladen habe, spreche ich nochmals mit den Verantwortlichen, trinke ein Feierabendbier und suche eine Aufgabe für den nächsten Tag, als mein Handy klingelt. Das Sachspendenlager bei mir zu Hause quillt über. Also fahre ich nach Hause in den Westerwald, lade den Bus wieder voll. Ein Ofen, Fahrräder, Möbel, Wolldecken, es passt kein Blatt mehr rein, als ich am Nachmittag wieder mit einem vollen Bus auf dem Weg ins Ahrtal bin. In nicht mal einer Stunde ist alles an dankbare Menschen in den Orten Marienthal, Dernau und Mayschoss ausgeliefert.
Die unendliche Dankbarkeit der Menschen, die außerordentliche Not, die dort immer noch herrscht, infizieren jeden, der einmal da war. Man kann nicht aufhören. Auch am nächsten Wochenende sitze ich wieder im vollgeladenen Bus auf dem Weg ins Ahrtal. Das ständige Hämmern der Stemmmeißel immer im Hintergrund. bau