Dennis Ruland (38) ist kein Mann der großen Worte. Vor allem über Gefühle redet er ungern. Aber seine Mitarbeiterin Kathrin Potthoff gibt ein Geheimnis preis: Dennis hat sich verliebt. In die Kreuzberger Menschen. Was macht denn deren Charme aus? Dennis zuckt mit den Schultern, lächelt und schweigt. Dann sagt er: „Die halten zusammen. Und sind dankbar.“ Dennis sucht nun eine Wohnung in Kreuzberg. Für immer.
Den Verein Medical Service haben Ruland und Mitstreiter gegründet, weil sie eine flexible und preiswerte Alternative zu den großen Hilfsorganisationen bieten wollten. Davon profitierten bislang vor allem kleine Vereine, die für ihre Veranstaltungen einen Sanitätsdienst brauchten. Ruland hat eine Truppe um sich gescharrt, deren Männer und Frauen unterschiedliche Qualifikationen im Sanitätsdienst mitbringen. Er selbst ist auch Notfallseelsorger. Da er – bis auf vier Tage Heimaturlaub – ununterbrochen in Kreuzberg ist, kann er den traumatisierten Menschen nachhaltig beistehen.
Seit der Flut sitzen die Sanitäter abends oft draußen am Feuer zusammen, mit Kreuzbergern, die sich etwas von der Seele reden wollen oder einfach menschliche Wärme suchen. Bis vor Kurzem haben die Sanis unter einfachsten Bedingungen im Zelt übernachtet. Als die Nächte eisig wurden, sind sie in das Obergeschoss eines zerstörten Hauses gezogen. Vor die nackten Mauern haben sie bunte Tücher gehängt. Die Sofas sehen nach Sperrmüll aus. Aber diese Leute brauchen nicht viel. Ihre Einsätze spiegeln den Alltag.
Ein Mensch, der den Schock der Flut nicht ertrug, erlitt einen Herzinfarkt. Sie übernahmen die Erstversorgung. Der Finger eines Helfers musste amputiert werden. Sie versorgten kleine Wunden, die nicht heilen wollten. Auf einer Müllhalde fiel ein Mann vom Bagger und bekam keine Luft mehr. Ein Mädchen wollte das Haus nicht mehr verlassen, wenn es regnete. Kathrin Potthoff (36) tröstete es, führte es Schritt für Schritt aus der Angst. Dennis sagt: „Gerade in den ersten Wochen haben wir auch häufig Augen ausgespült.“ Das war damals im Sommer, als beißende Staubschwaden das Dorf einhüllten.
Immer wieder fällt jemand in dunklen Ecken hin, weil der Boden Löcher hat. Manchmal stolpert auch ein Mann über seine Füße, der sich ein Bier zu viel genehmigt hat, um das Elend kurz zu vergessen. Zudem bieten die Sanitäter Corona-Tests an, die rege nachgefragt werden. Seit einigen Wochen ergänzt ein Arzt das Team. Michael Jasper, Facharzt für Allgemeinmedizin, kommt an seinen freien Wochenenden regelmäßig zum Impfen in den Kreuzberger Sanitäts-Container. Bedankt man sich wortreich für sein Engagement, winkt er ab und sagt: „Alles gut.“
Kathrin hat in Meckenheim acht Kinder zwischen drei und 19 Jahren. Der Mann, auch im Verein Medical Service aktiv, versorgt die Kids. Warum tut Kathrin sich das an? Neben Haushalt und Familie, neben der Brotarbeit – erst als Verkäuferin, jetzt als Hilfe im Haushalt eines Schwerkranken – noch Sanitätsdienst in Kreuzberg? „Das ist meine Heimat“, sagt sie. „Und ich habe das Gefühl, es wird hier eine Frau gebraucht.“ Es gibt halt Beschwerden, mit denen sich eine Kreuzbergerin ungern an einen Mann wendet.
Aber am 14. Dezember hat das Heimweh Kathrin voll erwischt. „Jetzt in der Vorweihnachtszeit will ich bei den Kindern sein. Ich muss noch Geschenke besorgen und alles für die Feiertage vorbereiten.“ Das Festmahl an Heiligabend zum Beispiel. Und das verbringen die Retter („meine Jungs“) mit der Großfamilie Potthoff. Es gibt zweierlei Schweinebraten, Rotkohl und Knödel. „Wir sind alle zu einer Familie zusammengewachsen.“ Danach geht es für „die Jungs“ wieder nach Kreuzberg.
Zu ihnen gehört auch Altenpfleger Timo Heidbüchel, 21, mit dem bunten Schopf, der die Zeit in Kreuzberg nutzt, um sich beruflich neu auszurichten. Ebenfalls mit dabei ist Stefan Hoefer, 21, der hier begriffen hat: „Vertrieb ist nichts für mich, ich bleibe beim Sanitätsdienst.“ Sie alle meinen wie Dennis: „Hier ist es gut, hier kann ich was bewegen.“ Kathrin schwärmt, die Landschaft um Kreuzberg sei so schön. Wie bitte? Wer sich umschaut, sieht planierte nackte Ahr-Ufer, Schutthaufen, einstürzende Brücken, kaputte Häuser. Dreck. „Trotzdem“, sagt Kathrin und zeigt zu den Wäldern am Hang. „Wenn da morgens der Nebel aufsteigt.“ Die Jungs stimmen ihr zu. Das kann einem schon die Sprache ver- schlagen.
Wenn die Sanitäter nicht gerade Pflaster kleben oder Blutdruck messen, packen sie an, wo es gerade sein muss. Sie bauen Zelte für Veranstaltungen auf, schleppen Glühweinkartons und überwachen Corona-Vorschriften. Sie wuchten Kisten aus Lastern, wenn Lieferungen für den Dorfladen kommen. Eben haben sie das Flutmuseum in ein anderes Zelt umgesiedelt. Wo sich das Museum befand, stehen jetzt Container: das neue provisorische Bürgerhaus. Kathrin meint: „Weihnachten wird schlimm hier an der Ahr. Aber ich glaube, noch schlimmer wird es im Sommer. All das, was wir dann immer unternommen haben, geht nicht mehr. Die Kinder können nicht mehr in der Ahr planschen, wer weiß, was da noch alles drin liegt. Das Eiscafé ist weg. Schwimmbäder sind kaputt. Spielplätze fehlen. Und auch der Tierpark Schwanenteich in Sinzig ist schwer getroffen.“
Mütter wie Kathrin sind auf bescheidene Ferienziele in der Heimat angewiesen. Wenn anderswo Menschen an den Feiertagen in heilen Häusern gemütlich zusammensitzen, werden Kreuzberger sich mit den Sanitätern ums Feuer hocken. Die Trümmerlandschaft ringsum ist dunkel. Nur in wenigen Fenstern brennt Licht.
Spenden für die Arbeit der Sanitäter sind sehr willkommen (Medical Service NRW, Sparkasse Düren DE22 39550110 1201 4258 06).