Das Haus seiner Familie in Pützfeld oberhalb von Ahrbrück ist nahezu vollständig vom Wasser verschont geblieben. Seine Praxis, die einige Hundert Meter entfernt von der Ahr liegt, hat der benachbarte Bahndamm sehr gut vor der Jahrhundertflut geschützt. Das Wasser aus dem Keller hat Schlamm nach oben in die Praxis gedrückt. Der Arzt lässt die Räume gerade sanieren. Klaus Korte und sein Praxisteam haben im Nachbargebäude Asyl gefunden. Ein Steuerberater hat ihm zwei Räume zur Verfügung gestellt. Unser Redakteur Christian Kunst dokumentiert, was der Arzt über die Flutnacht vom 14. auf den 15. Juli und die Zeit danach berichtet:
Am Nachmittag des 14. Juli haben wir gesehen, dass das Wasser kommt und dass die Flut viel stärker wird als im Jahr 2016. Aber die Tragweite dieser Katastrophe habe ich zu diesem Zeitpunkt nicht mal annähernd erfasst. Ich war zu Hause in Pützfeld oberhalb von Ahrbrück. Ich hatte einen 30 Meter langen und etwa 1,50 Meter tiefen Graben vor meiner Haustür, wo die Abwasser- und Wasserleitungen hochgespült wurden. Wir haben zwei Häuser: ein kleines Bruchsteinhaus und ein Wohnhaus. Wir haben den ganzen Nachmittag über gekämpft, dass das Wasser nicht ins Bruchsteinhaus eindringt. Und das war nur das Wasser, was von den Hängen ins Dorf hinunterfloss. Einige meinten, was ich doch für ein großes Pech habe, dass das Wasser bei mir so viel weggespült hat. Um 18 Uhr hörte es auf zu regnen. Da haben wir geglaubt, das Schlimmste überstanden zu haben. Nur im Eingangsbereich des Bruchsteinhauses war etwas Wasser.
Da kommt mein Sohn vom Spaziergang wieder und sagt: „Du Papa, mein Auto schwimmt gerade weg.“ Wir sind nach Ahrbrück runtergelaufen und sahen, dass das Wasser bereits im Supermarkt war. Der ist bestimmt 700 Meter entfernt von der Ahr. Und tatsächlich: Das Auto meines Sohnes schwamm auf dem Parkplatz. Zusammen mit anderen Autos bildeten sie eine Rotte. Wir haben das Auto aufgegeben und wollten am nächsten Tag danach schauen.
Plötzlich hörten wir Rufe. Wir sahen mitten auf der Straße, umflossen von Wasser, einen Mann, der sich an einem Straßenschild festhielt. Unmöglich, den zu erreichen. Auf der gegenüberliegenden Seite saß ein anderer Mann auf einem Wohnwagendach. Mein Sohn sagte: „Papa, wir müssen dem helfen!“ Ich antwortete: „Wir können da jetzt nicht hin. Sonst werden wir beide weggerissen von den Fluten.“ Andere haben noch versucht, die vom Wasser Eingeschlossenen mit Seilen oder anderen Hilfsmitteln zu retten. Aber das war nicht mehr möglich. Feuerwehr und Polizei waren nicht erreichbar. Das Handynetz war zusammengebrochen. Das war zwischen 19 und 20 Uhr. Es wurde immer dunkler, und das Wasser stieg immer höher.
Wir sind zurück in unser Haus in Pützfeld. Dort hatten wir kein Wasser mehr, keinen Strom. Der Fernseher lief auch nicht mehr. In der Nacht habe ich noch versucht, irgendwie zu meiner Praxis in Ahrbrück zu gelangen, weil meine Computer ja auf dem Boden stehen. Und ich war mir sicher, dass Wasser in die Praxis gekommen ist. Da muss alles abgesoffen sein. Ich hatte gehofft, irgendwie noch was retten zu können. Ich bin dann quer durch den Wald nach unten gegangen. Da kam mir eine Schlammlawine entgegen, die mich fast noch mitgerissen hätte. Da habe ich gedacht: Jetzt ist Schluss. Du gehst keinen Meter weiter. Wir sind schlafen gegangen. Ich dachte: Morgen wird alles wieder gut sein.
Doch morgens war gar nichts gut. Es gab weiter keinen Strom, kein Wasser. Gar nichts. Ich bin erneut durch den Wald zu meiner Praxis gegangen. Ich mache die Tür auf und sehe, dass nur etwas Schlamm im Eingangsbereich ist. Doch die Praxis selbst war trocken geblieben. Es roch nach Heizöl. Der Keller war vollgelaufen. Ultraschallgeräte, Ersatz-EKG-Geräte, viele Steuerakten, alte Patientenunterlagen, Andenken an meine Studienzeit – alles weg. Hinter meinem Keller war ein komplett mit Betonwänden abgetrennter Heizöltank. Der Druck des Wassers war so stark, dass die Betonwände wie Streichhölzer umgeknickt sind. Die Tanks wurden aufgerissen. Da sind dann 10.000 Liter ausgelaufen. Das Ganze wurde nach oben gedrückt. Deshalb der Schlamm. Die Computer, alles in der Praxis war unversehrt geblieben. Ich hatte keinen Strom. Aber ich war froh, dass nichts zerstört ist.
Da kam eine Patientin und fragte mich: „Herr Doktor, wissen Sie es schon?“ Ich antwortete: „Nein. Wie? Was?“ Sie sagt: „Na, das mit Ihrem Kollegen! Der war doch mit seiner Familie auf dem Dach.“ Ich fragte: „Und dann?“ Sie: „Dann ist doch das ganze Haus in die Ahr geschwemmt worden. Das Haus, das gibt es doch gar nicht mehr. Und die Futterkrippe, den Imbiss nebenan, auch nicht mehr. Wir waren mit dem Pastor die ganze Nacht im Pfarrhaus und haben das gesehen.“ Ich war geschockt und habe gedacht: Mein Kollege und seine Familie sind tot. Ich sehe die womöglich nie wieder. Ich bin völlig benommen die Straße hinuntergegangen. Da kommt mir ein anderer Nachbar entgegen und ruft: „Im Ahrbogen hängt ein Mann im Baum.“ Ich hatte irgendwie diese leise Hoffnung, dass das vielleicht mein Kollege ist.
Kurz vor dem Ahrbogen kamen schon die ersten auf mich zu und sagten: „Da ist Ihr Kollege, der hängt im Baum.“ Es war zunächst nur schwer möglich, näher dort hinzukommen. Alles war voller Gegenstände. Autos, Bäume. Da waren noch richtig reißende Fluten am Morgen danach. Dann sah ich, wie mein Kollege auf dem Baum hing und rief: „Hallo Chef!“ Er hielt seinen vierjährigen Sohn auf dem Arm. Der war vor Erschöpfung eingeschlafen. Wir haben dann eineinhalb Stunden lang versucht, irgendetwas zu basteln. Aber es war unmöglich, über diesen reißenden Fluss zu kommen.
Es war 8.30 Uhr. Mein Kollege drohte nach elf Stunden im Wasser seine letzten Kräfte zu verlieren. Dann hat die Feuerwehr endlich die Leitstelle erreicht, die einen Hubschrauber schickte. Dreimal haben sie Ahrbrück angeflogen. Zweimal haben sie uns gar nicht gefunden und sind wieder abgedreht. Dann hat die Feuerwehr ein Feuer angezündet, eine Plane draufgelegt, sodass sich viel Rauch entwickelte. Die Hubschrauberbesatzung entdeckte uns und hat einen Froschmann runtergelassen. Der hat die beiden vom Baum gepflückt und vor uns auf die Straße gelegt. Dann haben wir meinen Kollegen und sein Kind in Decken und in alles hineingelegt, was wir in alten Autos gefunden haben. Alles stank nach Öl. Aber Hauptsache sie waren irgendwie warm.
Dann wollten wir die beiden in das Notfallzentrum bringen, das sich in der Schule befand. Aber die Straße war zerstört. Aufgerissen. Also sind wir mit geländegängigen Fahrzeugen durch den Wald gefahren – eine Strecke von etwa 50 Minuten über eine Holperpiste. Meinen Assistenten hatte ich im Arm. Und der kleine, vierjährige Junge lag, in eine Decke eingehüllt, vorn auf dem Schoß einer Frau. Stumm. In der Schule haben wir ein paar Tische zusammengeschoben und die beiden notfallmäßig versorgt. Wir haben sie in Wärmedecken eingewickelt. Relativ schnell war klar: Körperlich und organisch fehlt ihnen nicht viel. Dann ging das so bis nachmittags um halb drei, ehe die beiden zum Elisabeth-Krankenhaus nach Neuwied ausgeflogen wurden.
Da bin ich das erste Mal wieder nach Hause gekommen. Mir wurde angesichts der Meldungen aus der Schule immer deutlicher: Hier ist eine absolute Katastrophe passiert. Und eine Tragödie für die Familie meines Kollegen. Denn auf dem Dach seines Hauses, das die Ahr mit sich gerissen hat, saßen auch seine Frau und seine Tochter, die Zwillingsschwester des kleinen Jungen. Sie sind in den Fluten umgekommen. In einem reißenden Strom, der an dieser Stelle einen Kilometer breit und zehn Meter tief war. Das konnten sie doch nicht schaffen. Und wissen Sie: Das kleine Mädchen war einige Tage zuvor noch bei mir in der Praxis und hat dem Papa ein Bild gemalt.
Ab diesem Donnerstag habe ich zehn Tage lang durchgearbeitet. In der Schule. Dem Gesundheitszentrum. Dort befand sich das gesamte Organisationszentrum für diesen Teil der Ahr. Ahrbrück war ja immer noch völlig abgeschnitten. An dem Donnerstag bin ich kurz bei mir zu Hause gewesen. Man hat mich mit einem Jeep dort hingefahren. Auf dem Weg fuhren wir am Haus meines Kollegen vorbei. Da stand nicht mal mehr eine Mauer. Da war nichts. Daneben war der Imbiss, darüber ein Wohntrakt. Komplett weggespült. Ich habe später Bilder gesehen, auf denen das Wasser bis zum Dach stand. In dieser Nacht sind in Ahrbrück zehn Menschen ums Leben gekommen.
Ich habe in 30 Jahren als Arzt bestimmt schon viele schlimme Sachen gesehen. Wir sind als Ärzte Extremsituationen gewöhnt. Wir Ärzte wissen, wie das ist, wenn jemand schreiend zusammenbricht oder wenn jemand vor Trauer fast den Verstand verliert. Das erleben wir bestimmt nur alle paar Monate. Aber jetzt erlebe ich das hier zehnmal am Tag. Das ist doch hier keine normale Sprechstunde mehr. Ich und meine Kollegen an der Ahr haben von Müttern gehört, wie sie mit ihren Kindern auf dem Dachboden gesessen haben. Sie haben die Dachverkleidung und Dachpfannen aufgerissen. Doch die Öffnung zwischen den Dachlatten war so schmal, dass die Eltern nicht durchpassten. Dann wollten sie die Kinder herausheben. Aber die wollten nicht. Dann haben sie gebetet, dass sie bald in den Himmel kommen. Solche Geschichten gab es überall an der Ahr, nicht nur bei uns.
Dann gab es Menschen, deren Häuser keinen Dachboden haben. Die haben sich ins Obergeschoss gerettet. Sie haben ihre Ehepartner manchmal stundenlang in den Armen gehalten, damit sie nicht ins Wasser rutschen, das ihnen schon bis zur Hüfte stand. Aber irgendwann konnten sie ihre Liebsten nicht mehr halten. Und am Morgen danach haben sie ihren Partner dann tot aufgefunden. Und dann gibt es Kinder, die Vater oder Mutter in der Nacht nicht mehr in Sicherheit bringen konnten, weil sie ihr Elternhaus nicht mehr erreichen konnten. Sie fanden sie dann am nächsten Morgen in der Küche, im Wohnzimmer, im Keller. Tot.
Wir hatten an der Ahr Zehntausende Obdachlose in einer Nacht. Wir haben etwa 9000 Häuser, die schwer beschädigt sind. Wir haben zahlreiche Häuser, die abgerissen werden mussten. Es gibt hier viele Leute, die den Krieg noch miterlebt haben. Ich will das nicht vergleichen. Das war viel schlimmer. Aber das Ausmaß der Zerstörung, das sagen alle, das war im Krieg nicht so.
Mein Bruder – ein OP-Pfleger – hat mich gefragt, was das alles mit mir macht. „Was macht ihr denn“, habe ich ihn gefragt, „wenn ihr einen Massenanfall von Verletzten habt? Sagt ihr dann auch, dass ihr erst mal was für euren Kopf und eure Seele tun müsst? Wir können euch nicht operieren? Da muss man als Arzt durch. Das ist dann so.“
Nach zehn Tagen hatte ich das erste Mal frei. Da kamen die Vorsitzende des Hausärzteverbandes, Dr. Barbara Römer, und ihre Stellvertreterin Dr. Heidi Weber zu Besuch. Wir sind schon lange befreundet. Sie wollten mir eigentlich irgendwie helfen. Daraus wurde dann ein Kaffeenachmittag. Ich habe geredet. Sie haben zugehört. Einen Tag später habe ich gedacht, mich würde ein D-Zug überfahren. Das hatte ich noch nie. Ich hatte das erste Mal Ruhe, um die Ereignisse irgendwie zu verarbeiten. Ich war so niedergeschlagen und fertig.
Ich habe Patienten, die sind erst mal in Orten untergekommen, die 80 bis 90 Kilometer entfernt sind. Wenn die hier zu ihrem zerstörten Häuschen fahren, kommen die zunächst mal zu mir. Die wollen irgendwas Vertrautes wiedersehen. Wir Ärzte haben hier für viele eine ganz wichtige Funktion: Vertrautheit, ein gewohntes Umfeld.
Wir sind Seelsorger. Ja, es gibt Knochenbrüche, schlecht heilende Wunden. Viele haben aber seelische Traumata. Dreimal in der Woche haben wir nachmittags Psychotherapeuten in der Praxis. Dafür bin ich sehr dankbar. In unserer Verbandsgemeinde ist eine Handvoll von ihnen in fast allen Orten unterwegs. Das Ziel ist, die Betroffenen rauszufischen, die eine Psychotherapie brauchen. Reden wollen alle. Aber einige brauchen mehr, weil bei ihnen auch noch Altes wieder hochkommt. Und es gibt ein Netzwerk von etwas mehr als 200 Psychologen überwiegend aus dem Raum Köln-Bonn, die sich bereit erklärt haben, Betroffene direkt in eine Therapie aufzunehmen. Das sind alles Psychotherapeuten und Psychologen, die Erfahrung, eine eigene Praxis und die Zusatzausbildung Traumatologie haben.
Eines ist klar für mich: Es wird eine große Narbe bleiben. Die Schwere des Erlebten sagt nichts darüber aus, ob jemand Hilfe braucht. Die Psychologen sagen: Allein, dass jemand in diesem Flutgebiet wohnt, ist schon Trauma genug. Ihr gewohntes Umfeld gibt es nicht mehr. Und sie haben in ihrem Bekannten- und Freundeskreis immer Leute, die alles verloren haben.