Sie haben jetzt sogar einen größeren Kredit aufgenommen, um die folgenschwere Operation an ihrer Tochter zu finanzieren, die am heutigen Dienstag von einem Experten in Berlin durchgeführt wird. Er hat eine neue Methode entwickelt. Die Krankenkasse hatte die Finanzierung verweigert. Penis und Hoden werden entfernt, ein Loch geschnitten und die so entstehende Vagina mit Hoden- und Schafthaut ausgekleidet und die Harnröhre nach innen verlegt.
Es folgen noch zwei weitere Operationen. Bei der einen werden die schon vorhandenen Brüste geformt, bei der anderen will sich Vanessa Unger den für einen neutralen Betrachter kaum bemerkbaren Knochen an und zwischen den Augenbrauen abfräsen lassen.
Vanessa Unger hatte sich vor Weihnachten 2019 entschlossen, sich ein Herz zu fassen und ihrer Familie zu erklären, dass sie eine Genitalangleichung vornehmen lassen möchte. Endlich ihr erlösendes Coming-out. Sich nicht mehr verstecken müssen. Doch bis dahin ging sie durch die Hölle.
Geschlagen und getreten
„Irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas hasse ich an mir.“ Dieses tiefe Gefühl hatte Vanessa Unger schon als Kleinkind im Kindergarten. Und dieses Selbstbild trug sie wohl auch in irgendeiner Form nach außen. Immer wieder wurde sie geschlagen, getreten. „Schon im Kindergarten habe ich immer mal wieder eine Schaufel auf den Kopf bekommen, ohne zu wissen warum. In der Grundschule und auf dem Nachhauseweg wurde ich regelmäßig verprügelt“, erzählt sie.
In der Pubertät wurde es dann ganz schlimm. Die Muskeln, der Bartwuchs, der Stimmbruch. „Ich lehnte all das zutiefst ab, was mich so veränderte, konnte es aber nicht benennen. Irgendwann wusste ich nicht mehr weiter …“, sagt sie leise. Im Alter von 14 Jahren versuchte sie, sich das Leben zu nehmen. Sie wurde gerettet, doch die Tortur ging weiter. Mobbing in der Schule, bloßgestellt zu werden – sogar von zwei Lehrern, die versuchten, ihre Freunde gegen sie aufzuhetzen.
„Irgendetwas stimmt nicht, irgendetwas hasse ich an mir.“
Vanessa Unger
„Ich habe immer versucht, nicht aufzufallen, mich im Hintergrund, am Rand bewegt, damit man mich in Ruhe lässt. Doch die immer wiederkehrenden Attacken haben dazu geführt, dass ich auch heute noch unter massiven sozialen Angststörungen, Panikattacken und Depressionen leide“, so Vanessa Unger. Seit ihrem Selbstmordversuch macht sie eine Therapie.
Dreimal war sie in einer Tagesklinik. Nach einer dieser Klinikzeiten machte sie ein Praktikum in einer Kindertagesstätte und begann eine Ausbildung als Erzieherin. Doch immer wieder brachen mit Macht Ängste, Verzweiflung und dieses unbenennbare Etwas durch. Das ging ihr auch so während ihrer Zeit als Auszubildende in einem Garten- und Landschaftsbaubetrieb. „Es gibt so viele Brüche in meinem Lebenslauf, dass ich mich an die Reihenfolge gar nicht richtig erinnern kann“, erzählt die junge Frau, die noch versucht hatte, ihr Abitur nachzuholen. „Wegen Diskriminierung musste ich abbrechen“, erzählt sie.
In einem der Klinikaufenthalte wurde ihr dank der Hilfe ihrer Therapeutin klar, was mit ihr los ist. „Doch ich wollte es nicht wahrhaben, auch weil so viel damit verbunden ist, auch der ganze Hass, der auf Menschen wie mich abgesondert wird“, sagt sie. Doch mithilfe ihrer Therapeutin und einer Sozialarbeiterin kam sie immer mehr zu dem Entschluss, zu dem zu werden, was sie von Anfang an war: ein Mädchen.
„Wir werden auch als Schwule oder Homos beschimpft, obwohl das überhaupt nichts miteinander zu tun hat.“
Vanessa Unger
Vanessa Unger bewegt sich nicht viel im öffentlichen Raum. Wo sie hingeht, wird sie angestarrt. Immer noch kommt es vor, dass sie beschimpft und auch körperlich angegangen wird. „Wir werden auch als Schwule oder Homos beschimpft, obwohl das überhaupt nichts miteinander zu tun hat. Für Unwissende: Es ist wissenschaftlich belegt, dass das, was Frauen in einem Männerkörper ausmacht, genetisch schon im Mutterleib im Gehirn angelegt ist. Das sogenannte ,biologische Geschlecht' bezieht sich nur auf die Genitalien, doch Geschlecht ist so viel mehr, das ist ein ganzes Spektrum“, erklärt Vanessa Unger.
Ihr Wissen und ihre Erfahrungen teilt die 22-Jährige auf Plattformen wie Twitch und Twitter im Internet. Sie betreibt einen Livestream auf ihrer Seite „Finessi_“ bei Twitch, ist fünfmal die Woche für drei bis sieben Stunden live, in denen jeweils 300 bis 600 Zuschauer online sind. „Es gibt viele tolle Menschen, die zuschauen und Kommentare schreiben, aber es gibt eben auch die anderen. Ich habe auch schon Todesdrohungen erhalten – glücklicherweise habe ich Moderatoren, die dieses Zeug sofort herauslöschen“, so die nun selbstständige Unternehmerin.
Auch bietet sie ehrenamtlich Workshops in Schulen über die Plattform „SchlauBonn“ an, in denen es um Aufklärung für geschlechtliche und sexuelle Vielfalt geht. Ihre Botschaft für Menschen, die denken, dass sie möglicherweise eine Trans-Person sein könnten: „Unbedingt Beratungsstellen aufsuchen, die helfen weiter.“
Die Entscheidung, den Schritt zu gehen, sich nun auch operativ angleichen zu lassen, hat sich Vanessa Unger nicht leicht gemacht. Auf die Frage, wie ihr Name als Junge war, sagt sie: „Ich möchte ihn nicht nennen, denn mit ihm sind nur schmerzhafte Erinnerungen verbunden – ich brauche einen klaren Schnitt.“
Allein die Namensänderung und der Eintrag in den Personalausweis war eine große Sache, die neun Monate gedauert hat. „Da werden zwei Gutachten erstellt, die feststellen, ob man Trans ist oder nicht. Da kommt dann ein wildfremder Mensch, der einem viel zu intime Fragen stellt, etwa zu meinen Lieblingsstellungen oder zu meiner Unterwäsche, ob ich devot bin oder nicht – als ob eine Frau nicht dominant sein darf. Man muss sich teilweise auch unten rum frei machen. Es war sexistisch und eine diskriminierende Erfahrung“, so Vanessa Unger.
Fettverteilung verändert sich
Nach dem Coming-out erfolgte die Geschlechtsangleichung zunächst mit Hormontabletten. „Die Fettverteilung verändert sich, auch im Gesicht. Die Muskeln werden abgebaut. Ich hatte richtig breite Schultern, die mich gestört haben. Der Haarwuchs am Körper reduziert sich im Gegensatz zu dem auf dem Kopf“, erzählt Vanessa Unger. Bis zum Jahr 2008 war es Gesetz, dass verheiratete Menschen sich im Fall einer Geschlechtsangleichung zwangsscheiden lassen mussten.
„Bis zum Jahr 2011 war es so, dass man sich zwangsweise medizinisch angleichen lassen musste“, erklärt Unger. Sie selbst hat sich freiwillig entschieden, die OP machen zu lassen. „Sie ist nicht rückgängig zu machen, ich habe mich sehr intensiv mit der Frage auseinandergesetzt, was wäre, wenn ich damit nicht zurechtkäme – ich bin zu dem Ergebnis gekommen, dass es dann eben meine Entscheidung war“, so die junge Frau. Ihr Freund, ein Cis-Mann, mit dem sie seit zwei Jahren eine Beziehung führt, hat sie darin bestärkt. „Er hat gesagt, wenn ich nicht zweifeln würde, wäre es keine reife Entscheidung.“ Die Rhein-Zeitung wird Vanessa Unger nach der medizinischen Genitalangleichung erneut besuchen, um zu sehen, wie es ihr damit geht.
Weitere Infos zum Thema gibt es im Internet unter www.queer-mittelrhein.de, www.trans-kinder-netz.de oder unter www.dgti.org