Schäden von 1,7 Milliarden Euro
Knapp 18 Monate nach der Flut ist die Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler in der ersten Phase des Wiederaufbaus angekommen. Vor ihr liegt das Abarbeiten eines gewaltigen Maßnahmenplans mithilfe der Aufbau- und Entwicklungsgesellschaft. Das Gesamtschadensvolumen: geschätzt 1,7 Milliarden Euro. „Wenn wir ein Jahr zurückschauen, haben wir gute Schritte nach vorn gemacht. Viele Dinge funktionieren, wenn auch in Provisorien“, zieht Bürgermeister Guido Orthen Bilanz.
Es waren in der Stadt rund 5000 Häuser von der Flut betroffen. Zahlen dazu, wie viele Gebäude tatsächlich zerstört oder vorübergehend unbewohnbar wurden, liegen der Stadt nicht vor. Weder die Sanierungen noch der Abbruch von Gebäuden unterliegen per se der Genehmigungspflicht. „Aber unübersehbar ist, dass es nach wie vor eine ganze Reihe an Gebäuden gibt, die noch nicht wieder vollständig bewohnbar sind. Auch wenn deren Zahl erfreulicherweise abnimmt.
Aktuell haben wir im Vergleich zu den Tagen vor der Flut rund 2100 Einwohnerinnen und Einwohner weniger. Das entspricht einem Rückgang von etwas über 7 Prozent. Wir stellen aber seit einiger Zeit wieder eine leichte Zunahme fest, sodass wir davon ausgehen dürfen, die Talsohle durchschritten zu haben“, so Orthen. Monat für Monat gebe es zwischen 50 und 100 Zuzüge, Neuanmeldungen oder Wiederanmeldungen.
„Wir spüren, dass wir dadurch jünger werden. Der Wegzug von Älteren ist signifikant höher. Wir sind um jeden Einzelnen dankbar, der wiederkommt“, so Orthen. „Wir brauchen aber alle Generationen mit ihren unterschiedlichen Bedürfnissen, insbesondere auch die älteren Mitbürger, auf deren Bedürfnisse die Stadt ausgelegt war. Denn davon hängen ja auch speziell darauf ausgerichtete Dienstleistungsbetriebe und Einzelhandelsgeschäfte ab.“
Wiederaufbau braucht zehn Jahre
Dass viele Einzelhändler und Gastronomen jetzt Stück für Stück wieder am Start sind, mache deutlich: Es verändert sich etwas. Orthen erinnert daran, wie die Stadt vor einem Jahr ausgesehen hat – ohne jeglichen Einzelhandel bis auf die Pop-up-Mall, und vielen Häusern, die im Dezember noch dunkel waren. Doch obwohl es irgendwie vorangeht, fällt es dem Bürgermeister schwer, sich über diese kleinen Schritte über Gebühr zu freuen. „Ich sehe die Bedeutung der vielen kleinen Schritte, zum Beispiel der Aufbau der einzelnen Brücken. Und ich fühle, wie wichtig es für die Menschen ist. Aber in Anbetracht der Vielzahl der Maßnahmen kommt bei mir nicht so ein Himmel-hoch-jauchzend-Gefühl auf. Worüber ich mich aber freue ist, dass die Menschen in ihre Häuser zurückkehren.“
Dort, wo es dauert mit der Rückkehr und dem Wiederaufbau, trifft Guido Orthen auf die Ungeduld, muss mit der Enttäuschung von Menschen umgehen können, die ihre Erwartungen höhergesteckt haben, als die Realität es zulässt. „Ich kann nachvollziehen, dass es vielen nicht sichtbar schnell genug geht. Es gibt Dinge, die nicht nur wegen der Gesetze ihre Zeit brauchen, weil sie kompliziert sind. Das muss man akzeptieren.
Ein Beispiel ist die Kanalsanierung. Solange wir nicht wissen, in welchen Bereichen welche Kanäle erneuert werden müssen, können wir die Baumaßnahme nicht planen. Da bleibt nur die Möglichkeit, Provisorien herzustellen. Das machen wir in der Georg-Kreuzberg-Straße und in der Lindenstraße Anfang nächsten Jahres auch“, so Orthen. „Ich habe von Anfang an gesagt: Der Wiederaufbau dauert zehn Jahre. Das braucht Geduld, gegenseitiges Verständnis, auch für die Maßnahmen und deren Abläufe.“
Dies so zu kommunizieren, dass die Menschen es nachvollziehen können, sei eine schwierige Aufgabe und verbunden mit der Bitte, aufeinander zu schauen und nicht nur auf die eigenen Bedürfnisse. „Wir haben Prioritäten gesetzt bei Schulen und Kindergärten, weil sie wichtig sind. Wir wissen aber auch, dass die Parkanlagen wichtig sind – für eine andere Bevölkerungsgruppe. Wir versuchen, alle Bedürfnisse und Bedarfe nach und nach im Blick zu haben. Es kann aber niemand hexen.“
Die Chance, es anders zu machen
Am Ende der prognostizierten zehn Jahre Wiederaufbau sieht Orthen Bad Neuenahr-Ahrweiler als eine Mittelstadt vor sich, die eine hohe Lebensqualität für alle Generationen bietet. „Wir werden eine Tourismusdestination bleiben“, sagt er. Doch die Hotellerie und die Gastronomielandschaft werden sich verändert haben. „Das wird nicht schlechter als vorher. Da werden viele Dinge noch mal neu gedacht“, beobachtet Orthen den privaten Wiederaufbau. Tourismus, Wein und Gesundheit – diese drei Säulen werden aus seiner Sicht die wesentlichen Identitätsfaktoren bleiben, aber moderner und neu aufgestellt mit neuen Angeboten, zum Beispiel im Wellnessbereich.
„Wir gehen mit einem anderen Bewusstsein in den Wiederaufbau. Nachhaltigkeit und Klimaresilienz sind dabei nicht nur Schlagworte. Die Diskussion um einen Windpark wird heute mit Sicherheit anders geführt als vor zwei Jahren. Es hat einen Lernprozess gegeben. Wir haben beispielsweise eine Begrünungssatzung erlassen. Jetzt ist ein erster Bebauungsplan mit der Pflicht, Fotovoltaikanlagen aufs Dach zu setzen, auf dem Weg. Im Januar fassen wir einen Grundsatzbeschluss zum klimaneutralen Aufbau. Wir müssen beispielsweise das Fahrradfahren attraktiver machen. Die Chance haben wir jetzt.“
„Wir brauchen den Sonderstatus“
Was Orthen von Anfang an vermisst hat und heute noch beim Wiederaufbau helfen könnte, ist ein Sonderstatus, der sich in besonderen rechtlichen Regelungen zeigt. „Wir brauchen schlicht und einfach Ausnahmen. Änderungen im Bauplanungsrecht würden uns heute noch helfen, wenn sie denn kämen. Es fehlt ein katastrophengerechtes Recht – auch als Blaupause für künftige Ereignisse.“
Auch wenn die Bilder aus den Chaostagen unmittelbar nach der Flut inzwischen archiviert sind, in den Köpfen vieler Menschen sind sie noch präsent. „Wenn man 56 Jahre in dieser Stadt lebt und zig Jahre mit Enthusiasmus für sie arbeitet, dann ist es zunächst einmal schwer zu verkraften, dass diese Stadt und die Menschen völlig verändert sind. In den ersten Tagen habe ich gedacht: Das schaffst du nicht mehr. Wir haben gelernt, nicht wegzulaufen und die Herausforderung anzunehmen. Wir haben ein sehr gutes Team und erfahrene Kollegen. Wir verzeichnen keinen Exodus, die Menschen bleiben. Das ist unsere Heimat. Das gibt mir die Kraft, meinen Beitrag zu leisten“, so Guido Orthen.