Um von jetzt auf gleich zur Seniorin zu werden, muss ich viel Ausrüstung anlegen. Henrike Sappok-Laue, Lehrerin der Fachschule Altenpflege der BBS, legt mir zuerst eine Weste mit Gewichten an. Schon ist meine Haltung gekrümmter. Dann kommen Gewichte an Beine und Arme, die die nachlassende Muskelaktivität im Alter simulieren.
Nun muss auch noch meine Beweglichkeit eingeschränkt werden: An Knien und Ellenbogen legt mir Sappok-Laue Bandagen an, die die Funktion meiner Gelenke erheblich einschränken. Außerdem bekomme ich eine Krause um den Hals gelegt. An den Händen trage ich Handschuhe, die zum einen meinen Tastsinn vermindern und zum anderen das Greifen etwas erschweren. Jetzt wird weiter an meinen Sinnen herumgefeilt: Eine besondere Brille simuliert die Altersfehlsichtigkeit und lässt mich Farben anders wahrnehmen, Kopfhörer machen mich schwerhörig.
Fertig ist mein gealterter Körper, und ich fühle mich in ihm ganz fremd. Was mir als Erstes auffällt ist, dass ich Schwierigkeiten habe, das Gleichgewicht beim Laufen zu halten, da die vielen Gewichte meine Bewegungen stark erschweren. Ich schlurfe nun eher über den Fußboden anstatt meine Beine richtig zu heben. Ich bewege mich automatisch schwerfälliger und langsamer. Sappok-Laue gibt mir einen Rollator und schon geht es ein Stück besser – immerhin muss ich mir nun keine Gedanken mehr über mein Gleichgewicht machen und kann mich auch mal hinsetzen, denn der Altersanzug erfordert eine große körperliche Anstrengung.
Warum bietet die BBS eigentlich so eine Erfahrung an? In der Schule lernen Auszubildende aus der Altenpflege zwei- bis dreimal die Woche die theoretischen Grundlagen der Pflege. Viele von ihnen sind wie ich unter 30 Jahre alt. Sie blicken immer nur von außen auf die körperlichen Beschwerden der Senioren, um die sie sich kümmern. Mit dem Altersanzug erleben sie, was diese körperlichen Beschwerden tatsächlich bedeuten und werden damit einfühlsamer. Sappok-Laue beschreibt: „Die Schüler merken, dass die Senioren sich nicht absichtlich schwerfällig bewegen. Wenn sie sagen, dass etwas gerade nicht geht, hat das nichts mit Faulheit zu tun, dann geht es wirklich körperlich nicht.“ Einer der Schüler, so die Lehrerin, habe beschrieben, dass er sich traurig und bedrückt gefühlt habe.
Bedrückt habe ich mich auch ein wenig gefühlt. Mit dem Anzug habe ich mir zweimal überlegt, ob ich noch weitere Treppen steigen oder einen weiteren Weg gehen will. Es ist einfach zu anstrengend, die Leichtigkeit ist weg, und das schränkt wiederum die Spontanität ein. Was mich aber am meisten bedrückt hat, war die Schwerhörigkeit, die die Kopfhörer simuliert haben. Plötzlich ist es still um mich herum, obwohl alles seinen normalen Gang nimmt. Es hat sich fast so angefühlt, als sei ich von all dem Treiben komplett ausgeschlossen.
Zusätzlich zu der Ausrüstung, die das Alter simuliert, besitzt die BBS Bandagen, die eine halbseitige Lähmung des Körpers nachahmen. So eine Lähmung tritt häufig nach einem Schlaganfall auf. Auch diese Erfahrung will ich machen. Mit einem steifen rechten Bein und einem angelegten rechten Arm, den ich nicht mehr verwenden kann, habe ich versucht, Treppen zu steigen. Irgendwie hat das auch geklappt, doch ich habe mich dabei unsicher und ängstlich gefühlt. Und wieder habe ich gemerkt: Wenn jede Bewegung schwerfällt, überlege ich mir zweimal, welche Anstrengungen ich überhaupt noch auf mich nehmen möchte.
Welche Konsequenz ziehe ich aus der Erfahrung mit dem Altersanzug? Angst macht mir das Altern nicht, schließlich passiert es eigentlich nicht auf Knopfdruck, sondern nach und nach, und man gewöhnt sich an die Einschränkungen in den Bewegung und dadurch im Alltag. Der Altersanzug hat mir aber gezeigt: Ich muss mir im Alter meine Einschränkungen selbst eingestehen und – wenn nötig – Hilfe annehmen. Wenn ich nicht offen meinem Umfeld sage, was ich nicht kann, dann bin ich tatsächlich vom normalen Treiben meiner Mitmenschen ausgeschlossen. Wenn ich sie aber bitte, wegen der simulierten Schwerhörigkeit lauter zu reden, wenn ich einen Rollator zur Hilfe nehme und auf Treppen meine Mitmenschen bitte, mir den Gang am Treppengeländer freizuhalten, dann kann ich auch im Alter noch mithalten und erlebe viel Verständnis.
Wie die Schüler bin auch ich nun einfühlsamer gegenüber Senioren. Wenn es an der Supermarktkasse etwas länger dauert, obwohl man es selbst eigentlich eilig hat, dann liegt es an mir, Geduld und Verständnis aufzubringen, und nicht am älteren Menschen, sich zu beeilen.
Anschaffung von Altersanzug durch Spende ermöglicht
Im Januar hat die BBS mithilfe einer Spende den Altersanzug für den Unterricht in der Fachschule Altenpflege gekauft. In Kleingruppen können Schüler den Anzug ausprobieren und damit diverse Alltagssituationen durchspielen. Zusätzlich besitzt die BBS Handschuhe, die mithilfe von Strom das Zittern von Parkinson-Patienten in den Händen simulieren. Auch damit bekommen die angehenden Altenpfleger einen besseren Einblick, wie sich die körperlichen Beschwerden ihrer Patienten anfühlen.