G latteis: Zum Leidwesen der meisten Koblenzer wollte der Winter 1924 einfach nicht weichen. Den ganzen Februar hindurch gab es immer wieder Neuschnee und klirrende Kälte. Die Folgen waren nicht zuletzt spiegelglatte Gehwege und Straßen, zumal es keine Räumfahrzeuge gab. Wie bereits im Monat zuvor stürzten zahlreiche Koblenzer so schwer, dass sie mit Knochenbrüchen in den erst im Jahr zuvor eröffneten Kemperhof oder ins Brüderkrankenhaus gebracht werden mussten.
Noch schlimmer war die Situation auf den umliegenden Höhen, wo viele Straßen quasi unpassierbar waren. „Von allen Seiten, sowohl von den Autofahrern als auch von den Bauersleuten, die mit Fuhrwerken von der Höhe in die Täler fahren, wird schon seit Wochen über eine beispiellose Glätte geklagt. Viele Unglücke sind schon dadurch entstanden und manches Menschenleben zu Schaden gekommen“, schrieb die „Coblenzer Volkszeitung“ Mitte Februar.
Die Bauern vom Hunsrück, der Vordereifel oder dem Westerwald nutzten die Straßen nach Koblenz aber wohl trotzdem, um auf dem Markt ihre Waren zu verkaufen. Von Versorgungsschwierigkeiten berichteten die Koblenzer Zeitungen, abgesehen vom Eiermangel, jedenfalls nicht. Für diesen war allerdings nicht die Glätte verantwortlich. „Das Eierlegen hat seit dem Eintritt der Kälte nachgelassen, was auch mit ein Grund dafür ist, warum jetzt kaum noch Eier zum Markt kommen. Die Produktion wird aber ebenso schnell wieder steigen, sobald sich frühlingsmäßige Witterung einstellt“, schrieb die „Coblenzer Volkszeitung“.
K ahlschlag: Der strenge Winter hatte auch zur Folge, dass Bürger Bäume fällten, um sie zu verheizen und so Kohlen zu sparen. „Die Abholzungen nehmen nachgerade einen Umfang an, der nicht nur jeden Naturfreund bedenklich stimmen muss, sondern auch jeden besonnenen Menschen. Wer schon in der nächsten Umgebung spazieren geht, dem werden diese Gräuel der Verwüstung auffallen. Am Asterstein, am Ehrenbreitstein, im Bienhorntal bei Pfaffendorf, an den Hängen der Karthause und an vielen anderen Stellen haben die Äxte kahle Stellen geschaffen, den Vögeln die schönsten Nistgelegenheiten genommen und liebe und vertraute Bilder vernichtet“, schilderte die „Coblenzer Volkszeitung“.
Das Umland war ebenso betroffen wie die Stadt. „Auf der Strecke Andernach-Brohl sind die ganzen Berghänge dermaßen abgeholzt worden, dass man von einer gänzlichen Entwaldung sprechen muss. Die Kohlennot erklärt manches, aber sie entschuldigt nicht den Waldraub“, meinte die „Coblenzer Volkszeitung“. Und auch in der Vordereifel kreiste die Axt. „In diesem bitterkalten Winter und aufgrund der Arbeitslosigkeit wurde der Gemeindewald in Kruft auf das Ärgste ausgeplündert, so dass 20 Hektar Wald vernichtet sind“, berichtete die „Coblenzer Volkszeitung“.
N ormalisierung: Während die Koblenzer im Februar 1924 mit den Lasten des Winters zu kämpfen hatten, entspannte sich die wirtschaftliche und vor allem die politische Lage. Nicht zuletzt für den Bahnverkehr standen die Signale wieder auf Grün. Im Zuge des passiven Widerstands, zu dem die Reichsregierung als Antwort auf die französisch-belgische Besetzung des Ruhrgebiets aufgerufen hatte, war der Eisenbahnverkehr 1923 massiv bestreikt worden. Nachdem der passive Widerstand vor einigen Monaten aufgegeben worden war, hatte man sich nun mit den Alliierten geeinigt, sodass die Koblenzer auch wieder Züge im Fernverkehr nutzen konnten. Zuvor mussten sie immer an den Grenzen der Besatzungszonen sowie an der Grenze zum unbesetzten Deutschland umsteigen.
Zur Normalisierung trug darüber hinaus sicherlich auch bei, dass die verbliebenen Separatisten Mitte Februar ihre grün-weiß-rote Fahne vom Dach des Koblenzer Schlosses holten und die Stadt verließen. Auch aus dem Kurhaus in Bad Ems, von wo im Spätherbst 1923 Adam Dorten die Geschicke der selbst ernannten Rheinischen Republik gelenkt hatte, zogen Mitte Februar die Separatisten ab.
Und im Wirtschaftsleben sorgte die im November 1923 eingeführte Rentenmark für stabilere Verhältnisse. Dabei kursierten in den ersten Monaten 1924 zwei Währungen parallel, denn neben der Rentenmark wurde auch weiterhin mit der alten Reichsmark gehandelt. Der Wechselkurs: 1 Billion (alte Reichsmark) = 1 Rentenmark. Begehrter war im Handel allerdings die Rentenmark, wie auch eine Notiz der „Coblenzer Volkszeitung“ bewies: „In den Läden findet man wieder die Waren nach altem Stil in Mark und Pfennig ausgezeichnet.“
Dass die Menschen Vertrauen in die neue Währung hatten, zeigte auch der lebhafte Handel auf dem Koblenzer Schlachthof. „Es herrschte ein starker Betrieb, der an die Vorkriegszeit erinnerte“, so die „Coblenzer Volkszeitung“. Und auch die Bauwirtschaft meldete eine gute Konjunktur. So bemerkte die „Coblenzer Volkszeitung“ zu Neubauten auf dem Oberwerth: „Der endgültige Ausbau des wunderschön gelegenen Stadtteils scheint nicht mehr lange auf sich warten zu lassen.“
S tadt am Wasser: Auch wenn 1923 wirtschaftlich mit der Hyperinflation ein für viele Bürger schlimmes Jahr war, wurden im Koblenzer Moselhafen, der unterhalb des alten Kaufhauses gelegenen Moselwerft, 14 Prozent mehr Güter umgeschlagen als im Jahr zuvor. Insgesamt betrug das Gesamtvolumen, so die „Coblenzer Volkszeitung“, 161.963 Tonnen. Die Moselwerft, die sich auf einem Areal von 16,5 Hektar längs der Altstädter Moselfront erstreckte, war für nicht wenige Koblenzer, vor allem aus dem Kastorviertel, ein wichtiger Arbeitgeber. Denn viele der hier vor Anker liegenden Schiffe mussten auch noch in den 1920er-Jahren von den Hafenarbeitern, den sogenannten Schürgern, von Hand entladen werden.
Die meisten Schiffe, die hier festmachten, kamen über den Rhein. Die Mosel, die noch keine Schleusen besaß, spielte nur eine nachgeordnete Rolle. So registrierte die Statistik für die Ehrenbreitsteiner Schiffsbrücke 1923 die Durchfahrt von 48.600 Schiffen. Zudem passierten 108 Holzflöße 1923 die Schiffsbrücke in Richtung Norden. Der Durchgangsverkehr auf der Mosel belief sich 1923 hingegen nur auf insgesamt 61 Lastschiffe.
Für Schiffe, die mit einer größeren Ladung unterwegs waren, war das Befahren der Mosel damals wohl recht gefährlich. So schrieb die „Coblenzer Volkszeitung“, dass dies unter anderem in Koblenz ein Wagnis gewesen sei. Die Zeitung berichtete dabei von einem mit 9000 Zentnern Baumaterial beladenen Schiff, das mit beängstigender Schnelligkeit durch eine der engen Bogenöffnungen der alten Moselbrücke fuhr. „Eine alte Sitte ist es deshalb bei den meisten Moselschiffern, dass sie als Dankeszeichen an Gott dreimal die Schiffsglocke anschlagen, wenn sie die gefährlichen Stellen die ,alte Moselbrücke‘ passiert haben“, so die „Coblenzer Volkszeitung“.
S tadttheater: Auch wenn Koblenz 1924 bereits einige Lichtspielhäuser besaß, in denen die neuesten Streifen aus der Produktion der Berliner Universum Film Aktiengesellschaft (Ufa) oder anderer Filmgesellschaften liefen, brauchte sich das Stadttheater nicht um seine unangefochtene Stellung als Musentempel zu fürchten. Jeden Abend erhob sich der Vorhang in dem Zweispartenhaus für eine Operette, Oper oder ein Schauspiel. Und das Repertoire war groß. So standen auf dem Spielplan für Februar 1924 unter anderem die Wagneropern „Lohengrin“ und „Rheingold“, der Schauspielklassiker „Egmont“ von Goethe und die Operetten „Mignon“ von Ambroise Thomas, „Casparone“ von Carl Millöcker sowie, trotz abgesagtem Karneval, Johann Strauss‘ Operette „Fledermaus“.
Zu den Werken aus dem 18. und 19. Jahrhundert gesellten sich gleichwohl aber auch zahlreiche zeitgenössische Stücke. So wurde im Rahmen einer Reihe für modernes Schauspiel, deren Aufführung aus Gründen der Bühnenbelegung um 11 Uhr am Sonntag stattfand, unter anderem das Stücke „Ein Geschlecht“ von Fritz von Unruh aufgeführt.
Für den Autor war dies gleichsam ein Heimspiel, denn Fritz von Unruh wurde 1885 in der Altstadt, in der Rheinstraße, geboren. Vor dem Nationalsozialismus floh der überzeugte Pazifist, der im Ersten Weltkrieg schwer verwundet worden war, zuerst nach Frankreich, dann in die USA. Nach dem Zweiten Weltkrieg kehrte er nach Westdeutschland zurück, wo Fritz von Unruh, der in der Weimarer Republik ein gefeierter Bühnenautor war und 1926 den Schiller-Preis erhielt, 1970 in Diez an der Lahn starb.
Mit „Der Brief des Uria“ von Emil Bernhard wurde im Februar 1924 übrigens ein weiteres Stück eines Autors gespielt, der ebenfalls gut ein Jahrzehnt später vor dem Terror der Nazis in die USA fliehen musste. Der 1881 in Steglitz geborene Rabbiner und Schriftsteller Emil Bernhard Cohn, der als Autor das Pseudonym Emil Bernhard verwendete, war von 1914 bis 1925 Rabbiner in Bonn. Nicht unwahrscheinlich dürfte es sein, dass er der Aufführung seines Werkes in Koblenz damals beiwohnte.
Theateraufführungen fanden in der Stadt damals nicht nur auf der Bühne am Clemensplatz statt, sondern auch in anderen Sälen. Vor allem zahlreiche theaterbegeisterte Laien pflegten das Schauspiel. So präsentierten allein im Februar 1924 der Ehrenbreitsteiner Theaterverein „Ernst und Heiter“ sowie die Koblenzer Theatervereinigung „Hans Sachs“ Aufführungen. Beide waren, wie die „Coblenzer Volkszeitung“ anmerkte, sehr gut besucht.
P olizei: Die Koblenzer Polizisten erhielten im Februar 1924 gleich in zweifacher Hinsicht eine neue Ausrüstung: Einerseits bekamen sie einen Transportwagen für Festgenommene, ein Fahrzeug der in Bielefeld ansässigen Dürkoppwerke AG, und andererseits wurden die Beamten mit Gummiknüppeln ausgerüstet. „Diese sind von den Polizeibeamten bei den Unruhen in der letzten Zeit mit gutem Erfolg verwandt worden“, zitierte die „Coblenzer Volkszeitung“ ein Schreiben aus dem preußischen Innenministerium.
Für das neue Fahrzeug benötigten die Koblenzer Polizisten allerdings noch eine besondere Schulung. „Das Auto, das in Zukunft wohl manche geschlossene Gesellschaft beherbergen wird, wird von Polizeibeamten selbst gefahren. Fünf Polizisten haben dafür extra einen Kurs zum Kraftwagenführer gemacht“, meldete die „Coblenzer Volkszeitung“.
A ltes Hospital: Im Mai 1923 war der Kemperhof in Moselweiß nach mehrjährigen Umbauarbeiten eröffnet worden. Die meisten Kranken aus dem Alten Bürgerhospital in der Kastorstraße wurden dorthin verlegt. Im Februar 1924 beschloss die Stadtverordnetenversammlung, dass im Alten Hospital die Abteilungen für Patienten mit Haut- und Geschlechtskrankheiten verbleiben. Zudem beschloss man, dass die Räumlichkeiten für die Armen- und Altenpflege genutzt werden.
W etter: Der Februar des Jahres 1924 bescherte den Koblenzern keine Vorfrühlingsgefühle. „Der späte Winter will nicht weichen“, schrieb die „Coblenzer Volkszeitung“ am 25. Februar, nachdem in der Stadt ausgiebig Neuschnee gefallen war. Und zum Schnee gesellte sich harter Frost. So meldete die Zeitung am 18. Februar: „An der Moselwerft sinkt das Thermometer auf zehn Grad Kälte und der Ehrenbreitsteiner Sicherheitshafen ist schon wieder zugefroren.“