H indenburg: Am 2. Oktober 1922 feiert Hindenburg seinen 75. Geburtstag. Der Koblenzer Oberbürgermeister Karl Russell sendet dem Generalfeldmarschall – von 1896 bis 1900 Chef des Generalstabes des VIII. Armee-Korps in Koblenz – ein Glückwunschschreiben, das nicht zuletzt eine gewisse monarchische Gesinnung des Zentrumspolitikers verrät. Letztere hatte die sozialdemokratische Zeitung „Rheinische Warte“ Russell bereits im August vorgeworfen, als er beim Festakt zum Verfassungstag, dem Nationalfeiertag der Weimarer Republik, durch Abwesenheit glänzte.
In dem Glückwunschschreiben an Hindenburg, das die „Coblenzer Volkszeitung“ abdruckt, heißt es: „Hochzuverehrender Herr Generalfeldmarschall! Im Namen der Bürgerschaft der Stadt Coblenz beehre ich mich Eurer Exzellenz die ehrerbietigsten Glückwünsche zum 75. Geburtstag zu übermitteln. Je trüber die Zeiten und je drückender die Not, die seit Jahr und Tag in wachsendem Maße auf der ehemals so frohsinnigen Rhein- und Moselstadt lastet, umso inniger ist das Gedenken und umso herzlicher sind die Wünsche, die in Erinnerung an Deutschlands große Zeit heute die Stadt Coblenz ihrem hochverehrten Ehrenbürger entgegenbringt.“
Paul von Hindenburg, der während seiner Koblenzer Zeit in der Schlossstraße wohnte, wo er sich unter anderem über gackernde Hühner aus der Nachbarschaft beklagt hatte, war 1917 von der Stadtverordnetenversammlung zum Ehrenbürger der Stadt Koblenz ernannt worden. 1917, anlässlich seines 70. Geburtstags, ernannten noch 16 weitere Städte in Deutschland Hindenburg, der nach der 1914 gewonnenen Schlacht im ostpreußischen Tannenberg einen nationalen Mythos genoss, zum Ehrenbürger. Darunter befanden sich unter anderem die Großstädte Düsseldorf, Duisburg und Bremen.
Den postalischen Glückwünschen beigefügt ist noch ein Päckchen. Nach Hannover, wo Hindenburg in einer Villa residiert, die die Stadt ihm noch im Oktober 1918 zur lebenslangen Nutzung überlassen hatte, werden noch die beiden Bücher „Geschichte der Stadt Coblenz“ von Max Bär sowie „Deutschlands Städtebau, Coblenz“ von Hans Bellinghausen gesendet.
Der Koblenzer Stadtrat erkannte Hindenburg, der am 30. Januar 1933 Adolf Hitler zum Reichskanzler ernannt hatte, 2020 die Ehrenbürgerschaft ab. In den vergangenen zehn Jahren haben 22 weitere Städte Hindenburg ebenfalls die Ehrenbürgerschaft aberkannt.
M üll: In Koblenz wird der Müll schon Anfang der 20er-Jahre mit einem eigenen Kraftwagen abgeholt. Im Herbst 1921 meldet die „Coblenzer Zeitung“ bereits, dass die Stadt ein entsprechendes Müllabfuhrauto von der Firma Krupp gekauft habe. „Am hinteren Ende des Wagens befindet sich eine Füllöffnung, in der der Müll von der Arbeitsmannschaft, für die ein Sitz oder Stellplatz angebracht ist, ohne große Anstrengung hineingeworfen wird. Ein Probefahren in der städtischen Vorstadt fiel zur vollen Zufriedenheit aus. Der Wagen verfügt über 50 PS und eine Höchstgeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde, sodass er schnell in die weit von der Stadt gelegenen Müllabladeplätze gelangen kann“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“ im September 1921.
Während sich Koblenz so seines Mülls entledigt und ihn in die Peripherie karrt, gibt es direkt vor den Toren der Stadt bereits gar keine Müllentsorgung. So erscheint im Oktober 1922 in der „Coblenzer Zeitung“ ein Leserbrief zur Situation in Pfaffendorf, das damals noch eine selbstständige Gemeinde ist. Der dortige Gemeinderat beschließt im Oktober 1922 nämlich, die Müllentsorgung, die er vor einigen Jahren in eigene Regie genommen hatte, aus Ersparnisgründen wieder aufzugeben.
S traßenbahn: Ein eigenes Auto kann sich fast niemand leisten, also ist der öffentliche Nahverkehr das entscheidende Transportmittel. In Koblenz ist dies vorweg die Straßenbahn. Aber auch sie leidet unter Inflation und Kohleknappheit. So erhöht die Coblenzer Straßenbahn nicht nur die Fahrpreise, sondern sie legt aus Kostengründen die Strecke vom Goebenplatz, heutiger Görresplatz, bis zum Schützenhof ganz still. „Das Publikum, das diese Strecke benutzte, reitet jetzt, soweit es zur ,misera plebs teutonica‘ gehört, auf Schusters Rappen oder auf einem aus glücklicheren Zeiten geretteten Fahrrad“, schreibt die „Coblenzer Volkszeitung“.
Reduziert wird aus Kostengründen auch die Taktung anderer Linien. So geht es vom Plan nach Metternich im 20-Minuten-Takt. Ebenfalls alle 20 Minuten fahren die Linien von Koblenz nach Niederlahnstein, nach Vallendar und nach Moselweiß, wo die Endhaltestelle sich an der Anlegestelle der Fähre nach Güls am Fuß der Eisenbahnbrücke befindet. Und nach Arenberg fährt vom Ehrenbreitsteiner Bahnhof alle 30 Minuten eine Straßenbahn hoch. Eine bessere Taktung hat nur die Linie nach Neuendorf, die vom Plan alle zehn Minuten auf die andere Moselseite fährt. Für Nachtschwärmer ist die Straßenbahn übrigens wenig attraktiv. Die letzten Bahnen verlassen die Stadt gegen 22 Uhr, danach geht es auf Schusters Rappen oder mit dem Rad nach Hause, zumindest wenn man das Kleingeld für ein Autotaxi oder eine Pferdedroschke sparen will. Im Zuge der Inflation kostet im Oktober 1922 übrigens die billigste Fahrkarte für die Straßenbahn 15 Mark.
S tresemann: Der Parteivorsitzende der konservativen Deutschen Volkspartei (DVP), die bei den Reichstagswahlen 1920 13,9 Prozent der Stimmen erhalten hatte, hält in der Koblenzer Festhalle einen Vortrag. Die der DVP nahestehende „Coblenzer Zeitung“ widmet der Veranstaltung mit Gustav Stresemann, für die ein Eintritt in Höhe von 10 Mark erhoben wird, eine ausführliche Berichterstattung, die dem Zentrum nahestehende „Coblenzer Volkszeitung“ nimmt kaum Notiz davon. Laut „Coblenzer Zeitung“ sprach Stresemann in der Festhalle vor rund 2000 Zuhörern. In seiner Rede mahnt Stresemann zu nationaler Geschlossenheit und einem Ende des Klassenkampfes.
Das Hauptaugenmerk des DVP-Politikers, der von 1923 bis zu seinem Tod 1929 Deutschlands Außenminister war, galt allerdings vor allem der Europa- und Weltpolitik. „Wer in Frankreich will, dass zwischen Deutschland und Frankreich erträgliche Verhältnisse geschaffen werden, der ändere zuerst die französische Politik gegenüber Deutschland“, zitiert die „Coblenzer Zeitung“ den damals 44-jährigen DVP-Politiker. Für eine Verbesserung des deutsch-französischen Verhältnisses wurde Gustav Stresemann zusammen mit seinem Amtskollegen Astride Briand vier Jahre später der Friedensnobelpreis verliehen. Gustav Stresemann war der erste Deutsche, der mit dem Friedensnobelpreis geehrt wurde.
W einlese: Wann die Weinlese beginnt, bestimmt nicht der einzelne Winzer, sondern die Behörde. Für den Stadtkreis Koblenz ist der Beginn der Weinlese 1922 auf den 12. Oktober festgelegt worden. Um Diebstählen vorzubeugen, wird das Betreten der Weinberge aber bereits ab dem 13. September verboten. Und dies gilt generell auch für die Winzer. „Den Besitzern ist das Betreten ihrer Weinberge nur am Mittwoch von 12 Uhr bis zur Dämmerung gestattet“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“.
K arneval: Seit dem Weltkrieg köchelt der rheinische Frohsinn auf Sparflamme. Und auch 1923 wird es kaum Raum für die fünfte Jahreszeit geben. Zwei Wochen vor dem Beginn der Session 1922/23 verkündet der preußische Innenminister, dass alle öffentlichen Karnevalsveranstaltungen verboten sind. Hintergrund sei die wirtschaftliche und politische Notlage Deutschlands. „Die von geschlossenen Vereinen veranstalteten karnevalistischen Sitzungen mit Vorträgen sowie deren Kostümfeste fallen allerdings nicht unter das Verbot“, heißt es in der „Coblenzer Zeitung“.
T anzlokale: Auch in wirtschaftlich schwierigen Zeiten werden natürlich weiterhin Feste gefeiert. Und dabei wird ausgiebig getanzt. Davon zeugen unter anderem die Schilderungen zur Kirmes. Getanzt wird aber auch jenseits der großen Volksfeste, beispielsweise in Tanzlokalen, für deren Eintritt man allerdings mindestens 18 Jahre alt sein muss. Im Herbst 1922 kontrollierten, wie die „Coblenzer Zeitung“ schreibt, die Sittenpolizei und die amerikanische Kriminalpolizei mehrere Tanzlokale. „Bei dieser Gelegenheit wurden 30 weibliche Personen ermittelt, die noch nicht das 18. Lebensjahr erreicht hatten, sie wurden in Schutzhaft genommen und ihren Eltern übergeben“, so die „Coblenzer Zeitung“. Zudem erhielten zwei Wirte entsprechende Anzeigen. Die Volljährigkeit lag in der Weimarer Republik übrigens bei 21 Jahren, das aktive Wahlrecht bei 20 Jahren.
Wo die Tanzlokale sich befanden, geht aus der Zeitungsnotiz nicht hervor. Mutmaßlich waren sie in der Rheinstraße, in der sich in den 20er-Jahren viele Lokale und Hotels befanden. Und ein zahlungskräftiges Publikum, das vor allem nicht nur Mark, sondern Franc und Dollar in der Tasche hatte, gab es 1922 auch. Koblenz war schließlich nicht nur besetzt, sondern auch der Sitz der höchsten Behörde der Alliierten, der Interalliierten Rheinlandkommission.
W etter: Der Oktober kann noch einmal spätsommerliche Wärme bringen, weshalb er gern das Attribut „goldene“ erhält. 1922 ist dies allerdings nicht der Fall. So gesellen sich zum Leidwesen der Koblenzer zur Kohlenarmut auch eher kühle Temperaturen. Der Höchstwert wird am 5. Oktober mit 19 Grad gemessen, danach geht es schnell in den einstelligen Bereich. Und ab dem 17. Oktober liegen die Temperaturen auch tagsüber nicht mehr über 10 Grad. Den ersten Frost gibt es mit minus 1 Grad am 23. Oktober.