Bis der „Schleier fällt“ und eine neue Währung kommt, müssen die Koblenzer allerdings noch bis zum November 1923 warten. In der Stadt selbst steppt derweilen der Bär, und dies im wörtlichen Sinne.
Bären: Zirkus, Varieté oder Jahrmärkte spielten in den 20er Jahren des vorigen Jahrhunderts noch eine wesentlich größere Rolle als heutzutage, da das Leben einfach mehr auf der Straße stattfand. Zum Amüsement zählten dabei durchaus auch tanzende Bären. 1922 war dies noch kein außergewöhnliches Ereignis, auch wenn es vor dem Weltkrieg wohl noch mehr tanzfreudige Bären in der Stadt gab. So schreibt die Coblenzer Zeitung: „Ein ungewöhnliches Straßenbild, ein Bild wie man es in der früheren guten, alten Zeit öfter zu sehen bekam, war nun am Samstagvormittag in unserer Stadt. Bärenführer mit zwei ziemlich großen Bären durchzogen die Straßen. Die beiden Meister Petz zeigten bei den Klängen des Tambourin ihre Kunststücke.“ Aber bei allen Ballettkünsten ließen sie auch ihre Kräfte spielen. „Ab und zu waren sie auch übler Laune, und machten von ihren Bärenkräften Gebrauch und rannten um, wer ihnen in den Weg kam“, berichtet die „Coblenzer Zeitung“.
Milchwirtschaft: Der Verkauf von Milch obliegt nicht dem freien Handel, sondern wird von der Stadt geregelt. Generell erfolgt er über eigene Milchgeschäfte, die die Milch literweise abgeben. Wer mit der eigenen Kanne vorbeikommt, der bezahlt weniger. Inflationsbedingt steigt der Preis im September 1922 für einen Liter Milch in der Kanne von 29,50 auf 32 Mark, und in der Flasche von 34,50 auf 40 Mark. Die Milch, die in den Verkaufsstellen abgegeben wird, hat die Stadt Koblenz dabei zu einem beträchtlichen Teil selbst erwirtschaftet. Und sie sieht zu, dass hier die Produktionsmittel, sprich die städtische Kuhherde, nicht schrumpft. „Die Stadt pachtet trotz einer äußerst prekären Finanzlage den Kratzkopfer Hof an, weil sie auf die Milchmenge von täglich 300 Liter nicht verzichten will“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“. Der Kratzkopfer Hof auf der Pfaffendorfer Höhe ersetzt dabei ein gepachtetes Gut bei Vallendar, auf dem Mallendarer Berg, das die Stadt aufgeben musste. „Coblenz hat dadurch wieder drei Abmelkwirtschaften zur Verfügung, und zwar den Karthäuserhof, das städtische Gut „Zur Nette“ sowie nun den Kratzkopfer Hof. Zusammen bringen die Güter ein Drittel der Milch in Koblenz“, schreibt die „Coblenzer Volkszeitung“. Der Kratzkopfer Hof hat eine Größe von 130 Morgen. „Davon sind 60 Morgen feldmäßig bebaut, 35 Morgen Wiese und der Rest Wald, Gebäudeflächen und dergleichen“, so die „Coblenzer Zeitung“. Für die Pacht wird übrigens keine Bargeldsumme genannt, ein Zeichnen für das schwindende Vertrauen in die Währung. „Der Pachtpreis passt sich den gegebenen neueren Verhältnissen an. Er steigt und fällt je nach dem Stande des Roggenpreises an der Kölner Börse und wird bezahlt mit anderthalb Zentner Roggen für den gepachteten Morgen“, heißt es in der „Coblenzer Zeitung“. Der Kratzkopfer Hof ist jedoch nicht nur ein bäuerlicher Betrieb mit Stallungen für 25 Kühe, sondern auch Gastronomie. „Durch die Übernahme der Gastwirtschaft durch die Stadt ist die Gewähr für eine angemessene Weiterführung gegeben. Außerdem wird die Stadt die Hofgebäude mit einer elektrischen Leitung versehen und auch die Brunnenanlage im Interesse der Milchkühlung verbessern“, weiß die „Coblenzer Zeitung“. Der Kratzkopfer Hof, der auch über einen großen Obstbaumbestand vor allem von Zwetschen- und Apfelbäumen verfügt, liefert übrigens nicht nur Milch für die Stadt. 35 Liter der täglichen Produktion sind für die Gemeinde Pfaffendorf bestimmt, die damals noch selbstständig ist.
Impfen: Die Veranstaltung der Impfgegner, die im Frühjahr im evangelischen Gemeindesaal am Altlöhrtor stattfand, hat ein juristisches Nachspiel. Vor dem Koblenzer Amtsgericht haben sich der Mediziner Dr. Reinhard Steintle aus Pfaffendorf, Leiter der Ortsgruppe Coblenz des Reichsverbands zur Bekämpfung des Impfzwangs, sowie die Verantwortlichen des Anzeigenteils der drei Koblenzer Zeitungen, der „Coblenzer Zeitung“ (Rechtskonservativ), der „Coblenzer Volkszeitung“ (Zentrum) sowie der „Rheinischen Warte“ (SPD) zu verantworten. In ihren Anzeigenteilen war nämlich ein von Dr. Reinhard Steintle verfasster Aufruf erschienen, in dem der Mediziner behauptete, dass die Impfungen schädliche Nebenwirkungen haben. Außerdem rief er Eltern dazu auf, ihre Kinder nicht zu den Impfterminen zu schicken. „Als Arzt habe er sich im Interesse des Publikums zur Veröffentlichung der Anzeige verpflichtet gefühlt“, zitiert die „Coblenzer Zeitung“ aus der Verteidigung des Arztes vor Gericht. Das Amtsgericht sprach die drei Verantwortlichen der Anzeigenteile der Zeitung frei, Dr. Reinhard Steintle wurde zu einer Geldstraße von 1000 Mark verurteilt. Im Anbetracht der galoppierenden Inflation wird der Mediziner die Geldstrafe aber leicht verkraftet haben, ein Ei kostet im September 1922 mittlerweile 11 Mark, der billigste Fahrschein für die Straßenbahn liegt bei zehn Mark.
Primiz: Priestermangel ist in den 20er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts wohl noch kein Begriff. Sicherlich nicht in Koblenz, denn die Zahl der Berufung ist hoch. Nachdem im August 1922 drei Koblenzer in ihren Heimatgemeinden ihre Primiz, die erste Messefeier nach der Weihe, gefeiert hatten, gibt es nun in Kapellen-Stolzenfels eine weitere Primiz. Der Primiziant ist der Sohn des Volksschullehrers der damals noch selbstständigen Gemeinde Kapellen-Stolzenfels: Albert Weißenfels. Über die Feier schreibt die „Coblenzer Zeitung“: „Die Bewohner von Kapellen-Stolzenfels haben wohl selten ein so eindrucksvolles Fest erlebt wie die Primizfeier des Jesuitenpaters Albert Weißenfels. So wurde der Primiziant um 9 Uhr bereits im feierlicher Prozess vom Schulhaus zur Kirche geleitet“. Nach dem Hochamt, bei dem vier katholische Geistliche, darunter der Pfarrer von Kapellen-Stolzenfels, dem Neupriester attestierten, gab es einen Empfang im Saal des Winzervereins. Die Liste der Gratulanten gibt ein schönes Bild der damaligen sozialen Struktur der Gemeinde Kapellen-Stolzenfels, die damals rund 550 Einwohner zählte. Vertreter der Chöre gratulieren ebenso wie des Turnvereins sowie der Schulkinder, die damals noch nach Geschlechtern getrennt unterrichtet wurden. Albert Weißenfels zieht es nach der Feier übrigens in die Ferne. „Auf seinen Wunsch führt der weitere Weg den jungen Jesuitenpater nach Japan“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“.
Bahnhofsbuchhandlung: Die Inflationen bringt es mit sich, dass die Preise ständige nachjustiert werden. So auch die Mieten. Die Reichsbahn, in deren Besitz sich die Bahnhöfe befinden, teilt mit, „dass alle Bahnhofsbuchhandlungen nunmehr Prozentsätze vom Umsatz als Pacht zahlen müssen, so dass sich die Pacht dem jeweiligen Geldverhältnissen automatisch anpasst. Zudem dürfen Schmutz- und Schundliteratur sowie Druckschriften, die gegen Anstand und gute Sitten verstoßen, nicht verkauft werden“, heißt es in der „Coblenzer Zeitung“.
Stadttheater: Anfang September startet das Stadttheater in seine neue Spielzeit. Ob der wirtschaftlichen Verhältnisse ist es eine der schwierigsten seit der Eröffnung 1787. Gleichwohl ist das Programm der Spielzeit, die im Juli 1923 endet, mit 14 Opern, 17 Operetten und 16 Schauspielstücken sehr ambitioniert. Gespielt wird, wie in den Jahren zuvor, an fast jedem Tag, am Sonntag gibt es sogar zwei Aufführungen, eine nachmittags und eine am Abend. Inhaltlich betrachtet halten sich „leichte und schwere Kost“ die Waage. So zeigt das Musiktheater die Wagneropern „Ring der Nibelungen“ und „Lohengrin“, Beethovens „Fidelio“, Glucks „Iphigenie in Aulis“ oder Verdis „Traviata“. Und das Schauspiel präsentiert unter anderem vier Werke von Shakespeare, Goethes „Stella“, Schillers „Wallenstein“ oder Kleists „Käthchen von Heilbronn“. Auch Zeitgenössisches ist im Programm, so beispielsweise Walter Hasenclevers Drama „Gobseck“. Im Sommer 1940 wird dieser Autor, um nicht den Nazis in die Hände zu fallen, in Frankreich Selbstmord begehen. Die schwere Kost hat, vor allem im Schauspiel, übrigens keinen leichten Stand. Zur Saisoneröffnung mit Shakespeares Königsdrama „Richard III.“ schreibt die „Coblenzer Volkszeitung“: „Vielleicht war das der Grund für den schwachen Besuch des ersten Abends der neuen Spielzeit. Denn Klassikaufführungen stehen hier nicht im besten Ruf.“
Energiesparen: Kohle ist in der Weimarer Republik der Energieträger. Doch die Kohle ist knapp. Grund hierfür ist unter anderem, dass das Deutsche Reich im Zuge der Niederlage im Ersten Weltkrieg die Kohlegruben in Oberschlesien und im Saarland abtreten muss, letztere allerdings nur auf 15 Jahre. Um Energie zu sparen, beschließt die Koblenzer Stadtverordnetenversammlung, dass zukünftig nur noch 300 der insgesamt 475 Straßenlaternen brennen werden.
Waisenhäuser: Von der wirtschaftlichen Krise besonders hart getroffen sind die Waisenhäuser und Fürsorgevereine. In der städtischen Festhalle findet für sie eine Wohltätigkeitsveranstaltung statt, deren Programm unter anderem vom städtischen Orchester, den Turnern und den Männergesangvereinen gestaltet wird. Neben der Kultur gibt es auch eine ganze Reihe von Volksbelustigungen wie Würstchenschnappen, Stangenreiten, Kuchenwettessen, oder Schnellzeichnen. „Und an den offiziellen Teil schließt sich noch das Tanzvergnügen an“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“ in ihrer Vorankündigung. Die Veranstaltung, die an einem Sonntag in der Festhalle stattfindet, ist ein voller Erfolg. „An die 3000 Menschen besuchten die Wohltätigkeitsfeier“, heißt es in der „Coblenzer Zeitung“. Die Einnahmen aus der Bewirtung, die allesamt von der Bevölkerung gestiftet wurde, ist neben den Eintrittskarten Teil der Benefizaktion. „Unermüdlich wanderten Mädchen und junge Frauen durch den Saal und auf den Tribünen und boten freundlich Kaffee, Kuchen, Schnittchen, Zigarren, Blumen, Karten und sonstiges zum Verkauf an“, schreibt die „Coblenzer Zeitung“. Die Stimmung muss bei der Feier generell recht ausgelassen gewesen sein. „Viel Freude bereitete auch eine durch die Räume der Festhalle aufgeführte Polonaise“, so die „Coblenzer Zeitung“. Der Reingewinn belief sich schließlich auf 450000 Mark. Auch diese Summe muss man allerdings im Spiegel der Inflation betrachten.
Wetter: Der September 1922 ist kein Altweibersommer, die Koblenzer müssen auf spätsommerliche Wärme weitgehend verzichten. Nur an drei Tagen klettert die Quecksilbersäule über die 20-Grad-Marke. Die Höchsttemperatur liegt am 23. September bei 23 Grad, die Tiefsttemperatur am 19. September bei sieben Grad.