Die 88-Jährige sitzt an ihrem Küchentisch in einer Mietwohnung in der Goldgrube. Draußen rauscht ein Zug vorbei. Ihr Rollator steht bereit. Ihr Alter und das, was ihr Körper aushalten musste, sieht man Paulina Zerluk nicht an. Zweimal in der Woche trainiert sie, schwimmt regelmäßig. Ihr Rücken ist gekrümmt, sie hat Schmerzen. Sie ist Tschernobyl-Invalidin. Aber die Ärzte erkennen ihre Strahlenkrankheit nicht. Tschernobyl ist für viele schon zu weit weg. Nicht für Zerluk. „Den Atombomben-Abwurf auf Hiroshima kennt jeder, dabei war Tschernobyl so heftig wie 500 Bomben“, sagt sie. In Deutschland startete damals eine Debatte über die Gefahren von Kernkraftwerken, doch erst nach der Reaktorkatastrophe im japanischen Kernkraftwerk Fukushima 2011 beschloss die Bundesregierung den Atomausstieg.
Am frühen Morgen des 27. April 1986 klingelt Zerluks Telefon. Sie soll zum Kiewer Gebietskrankenhaus kommen, wo sie als Neurologin arbeitet. Mit weiteren Ärzten und einem Fachmann für Strahlentherapie fährt sie nach Tschernobyl. Warum, weiß sie damals nicht. „Es waren ungewöhnlich viele Flugzeuge und Zementlaster unterwegs, irgendetwas stimmte nicht“, erinnert sich Zerluk.
Rund 60 Kilometer vom Reaktor entfernt, hält das Auto. Sofort schlägt das Strahlenmessgerät bis zum Anschlag aus, auch im Gebäude, in das sich das Ärzteteam flüchtet. Sie fahren weiter. In einem Laden unterwegs trinken Zerluks Kollegen Wodka, das soll gegen die Strahlung helfen. „Ich trinke überhaupt nicht, auch damals nicht“, betont sie und erinnert sich an einen intensiven, metallischen Geschmack in ihrem Mund. „Wir hatten keine Ahnung von Strahlung“, berichtet die Ärztin, die ihr Studium mit Bestnoten abschloss. Als sie einen aus Moskau eingeflogenen Spezialisten fragt, was los ist, herrscht er sie an: „Stellen Sie keine dummen Fragen!“
Das Ärzteteam begleitet die Evakuierung von Prybjat. Die Stadt, die für die Arbeiter des Atomkraftwerks entstand, liegt nur vier Kilometer vom explodierten Reaktor entfernt. „Die Leute, meist junge Familien mit vielen Kindern, hatten Panik, es war so schlimm“, berichtet Zerluk, wechselt immer wieder unwillkürlich in ihre russische Muttersprache.
Für drei Tage müssten sie ihr Zuhause verlassen, hatte man den rund 50.000 Bewohnern gesagt. Unzählige Busse verlassen Prybjat, heute eine unbewohnbare, radioaktiv verseuchte Geisterstadt. In einem Krankenwagen begleitet Zerluk die Evakuierung. Die Ärzte nehmen die Menschen auf, die nicht mehr im Bus weiterfahren können. „Sie lagen im Gras, hatten Schwächeanfälle, Übelkeit, Durchfall, waren ohne Bewusstsein“, erzählt Zerluk mit Tränen in den Augen und flüstert:„Es war schrecklich.“ Ein Helfer wird in dieser Nacht Vater – und stirbt: „So viele Schicksale!“
Als der Reaktor explodiert, ist Zerluks Tochter Olga im vierten Monat schwanger. Offizielle Stellen empfehlen, abzutreiben. Doch Zerluks Enkel Alexander kommt fast gesund zur Welt. Rund ein Jahr nach ihrem ungeschützten Einsatz nach dem Super-GAU entdeckt Zerluk eine Beule an der Hüfte. In einer Moskauer Krebsklinik wird das bösartige Lymphom entfernt, sie bekommt Chemotherapie, leidet. Auch Knochen, Magen und Niere machen Probleme, doch die Blutwerte stimmen. „Ich habe nur zufällig überlebt“, sagt Zerluk nachdenklich. Um sie herum ist der Tod allgegenwärtig. Sie stürzt sich in die Arbeit mit ihren Patienten. Als sie 1995 in Rente geht, beschließt sie, mit Tochter und Enkel zur Schwester nach Deutschland überzusiedeln, der besseren medizinischen Versorgung wegen. Ihr Mann will die Heimat nicht verlassen, bleibt krebskrank in Kiew. 2017 stirbt Tochter Olga, auch ihr Mann ist inzwischen tot. Doch die fast 90-Jährige ist zweifache Uroma, hat viele Freunde in Koblenz, Ukrainer, Deutsche. Einer veranstaltete im vergangenen September zu Ehren der passionierten Hobbypianistin ein klassisches Benefizkonzert auf Schloss Stolzenfels. Zerluk sagt: „Tschernobyl ist für immer, und die Menschen müssen es wissen, damit sich so etwas nie wiederholt.“