An der Vinzenz Pallotti University in Vallendar läuft derzeit die Ringvorlesung zum Thema „Friedensethik“. Einer der ausgewählten Vorträge dieser Veranstaltungsreihe wird Sophie von Bechtolsheim – die Enkelin von Claus Schenk Graf von Stauffenberg – über den 20. Juli 1944, der Tag des sogenannten Stauffenberg-Attentats, halten. Im Interview mit der Rhein-Zeitung spricht Sie über ihre Familie, den 20. Juli und welche Mittel erlaubt sind, um Frieden zu erlangen.
Frau von Bechtolsheim, das sogenannte Stauffenberg-Attentat jährte sich am 20. Juli dieses Jahres zum 80. Mal. Sie selbst sind eine Enkelin des dadurch in die Geschichtsbücher eingegangenen Claus Schenk Graf von Stauffenberg. Kennengelernt haben Sie ihn nie persönlich, er wurde in Folge des gescheiterten Staatsstreiches ebenso wie seine Mitstreiter von den Nazis erschossen. Können Sie sich daran erinnern, wie Sie erstmals von Ihrem Großvaters erfahren haben?
An die Situation kann ich mich nicht erinnern. Es muss aber sehr früh passiert sein, und in kleinen Dosen haben mir meine Großmutter und mein Vater sehr unaufgeregt von ihm erzählt.
Ein Beispiel: Ich kann mich daran erinnern, dass bei meiner Großmutter eine Büste von ihm stand. So etwas von einem verstorbenen Familienmitglied? Das ist schon ungewöhnlich. Man kann sich leichter vorstellen, wie die Person ausgesehen hat. Gleichzeitig verleiht die Büste auch etwas Starres und Erhabenes. Meine Großmutter hat mir aber erklärt, dass mein Großvater nur aus einer bestimmten Perspektive so aussah und er zu Lebzeiten nie so starr war, sondern viel gelacht hat und ein ganz bewegtes und fröhliches Gesicht hatte. Das verdeutlicht ganz gut, wie ihr Umgang mit der Erinnerung an ihren Mann war: Sie hat ihren Mann für uns normalisiert, ihn nahbar gemacht.
Können Sie sich daran erinnern, wann Sie von seiner historischen Rolle erfahren haben?
Auch daran kann ich mich nicht erinnern; das muss aber ebenfalls sehr früh gewesen sein. Ich war als Kind und Jugendliche aber auch nicht an seiner historischen Rolle interessiert, sondern wollte wissen, was er für ein Mann war. Ich wollte mir vorstellen können, wie es wohl wäre, wenn ich ihn als Großvater noch hätte erleben können. Bis ich mich umfänglich mit der Geschichte des 20. Juli und seiner Rolle darin vertraut gemacht habe, hat es ziemlich lange gedauert.
Sie waren also weniger an der Person interessiert, die in die Geschichtsbücher eingegangen ist, sondern eher an dem Menschen?
Genau. Ich habe aber festgestellt, dass ich das nicht trennen kann. Mir wurde klar, dass ich ihm nur als eine Art „Gesamtkonzept“ nahekomme.
Wie ist Ihre Familie mit dem historischen Andenken an Ihren Großvater umgegangen?
Meine Großmutter hat immer gesagt, dass wir keine Berufshinterbliebenen sind. Das war zum einen ein ernst gemeintes Understatement, mit dem sie nicht kokettieren wollte. Über das, was am 20. Juli passieren würde, wusste sie einiges. Sie wusste zum Beispiel, dass ein Umsturz geplant war und von einigen wenigen Mitstreitern, wenn auch nicht genau wann und wie. Andere Menschen wurden für weniger Mitwissen hingerichtet. Trotzdem hat sich meine Großmutter selbst nie als Akteurin gesehen.
Zum anderen meinte sie mit diesem Satz, dass sie nicht in der Vergangenheit leben will. Sie und ihr Mann waren sehr pragmatisch, wollten die Gegenwart gestalten, um eine Zukunft möglich zu machen. Für sie war klar: Es ist nicht im Sinne meines Mannes, wenn ich mich nur auf sein Vermächtnis konzentriere. Hinter dieser Einstellung steckt ganz viel Klug- und Weisheit: Sie wusste, dass der Name von Stauffenberg eine Art Ehrfurcht auslösen kann, dass damit aber auch Erwartungen der Außenwelt an uns gerichtet werden könnten.
Was meinen Sie damit genau?
Zum Beispiel, dass der Lehrer sagt, von einer von Stauffenberg hätte er nicht erwartet, dass sie schwänzt oder spickt. Meine Großmutter wusste, dass es kompliziert sein kann, diesen Namen zu tragen und hat uns so darauf vorbereitet, einen Umgang damit zu finden.
Ihr Großvater war Berufsoffizier der Wehrmacht – also Teil des militärischen Systems. Sie selbst haben Geschichte studiert. Wie blicken Sie, als Hinterbliebene, aber auch als Historikerin, auf diesen Aspekt?
Man muss diesen Aspekt aus der Zeit heraus verstehen. Es war früher sicher ein Fehler zu sagen, dass die Wehrmacht sauber war und die Bösen nur die SS, die SA, der SD und die NSDAP (die Schutzstaffel, die Schutzstaffel, der Sicherheitsdienst des Reichsführers SS und die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei, Anm. d. Red.) waren. Aber es ist genauso falsch zu sagen, dass die Wehrmacht per se verbrecherisch war. Die Wahrheit liegt dazwischen, bei den jeweiligen individuellen Entscheidungen der Einzelnen.
Mein Großvater hat seine Militärlaufbahn noch zur Zeit der Weimarer Republik begonnen. Bestimmt hat er manches begrüßt, was ab 1933 versprochen wurde. Die Ablehnung des Versailler Vertrages etwa, den hat er als Schandvertrag empfunden. Auch wenn er Berufsoffizier war, war er von Anfang an skeptisch: In einem Kriegstagebuch, das er meiner Großmutter mitbrachte, äußerte er früh Sorge um die Hybris Hitlers. Er traute ihm schlicht keine kompetente Kriegsführung zu. Nichtsdestotrotz ist er in den Krieg gezogen und hat sein erlerntes Handwerk verrichtet.
2019 erschien Ihr Buch „Stauffenberg – Mein Großvater war kein Attentäter“ – eine Entgegnung auf die Biografie „Stauffenberg: Porträt eines Attentäters“. Wie kam es dazu?
Die Biografie kam zum 75. Jahrestag des 20. Juli heraus, und im Grunde ging es darin um den Versuch, eben jenen Tag umzudeuten: Die Involvierten und vor allem mein Großvater hätten nicht aus moralischen Aspekten gehandelt, es sei ihnen nicht um eine bessere Zukunft gegangen.
Das hat mich entsetzt. Noch schlimmer fand ich allerdings die Reaktionen auf das Buch: Fast in jedem Medium wurde es zum Kauf empfohlen, verrissen wurde es kaum. Der Herder Verlag ist dann auf mich zugekommen, und ich habe mein Buch geschrieben, weil ich eine andere Perspektive öffnen wollte. Vor allem der These, mein Großvater und die anderen Beteiligten des 20. Juli hätten ohne moralische Intention gehandelt, wollte ich widersprechen: Sie hatten gewusst, dass der Terror und das Morden nur enden konnten, wenn Hitler stirbt.
An diesem Montag werden Sie im Rahmen der Ringvorlesung „Friedensethik“ an der Vinzenz Pallotti University einen Vortrag zum Thema „20. Juli 1944. Stauffenberg und seine Familie“ halten. Wie kam es dazu?
Sie haben es zu Beginn schon gesagt: Der 20. Juli hat sich in diesem Jahr zum 80. Mal gejährt. Deshalb war ich in diesem Jahr – wie etwa auch beim 75. Jahrestag – viel unterwegs und habe Vorträge gehalten. Für den Termin in Vallendar ist mein Cousin auf mich zugekommen – der hat eine Professur für Philosophie an der Uni.
Apropos Frieden: Was ist für Sie Frieden? Und welche Mittel sind zur Herbeiführung oder Erhaltung des Friedens erlaubt?
Das ist eine komplexe Frage. Ich bin ja selbst Jahrgang 68 und entsprechend sozialisiert: Wir sind hier im Westen im Komfort des Friedens groß geworden. Und auch jetzt leben wir hier unheimlich privilegiert, können uns gar nicht mehr vorstellen, wie es ist, in einem Krieg zu leben. Die Antwort auf diese Fragen fällt mir entsprechend schwer.
Ich würde dazu mal ins Kleine blicken: Wenn auf der Straße eine wehrlose Person angegriffen wird, dann ist es richtig und geboten, diese Person zu schützen. Was im Kleinen gilt, gilt auch für das Große. Friede, Wahrheit und Gerechtigkeit sind nur möglich, wenn man auch bereit ist, dafür einzustehen. Das bedeutet schlussendlich, dass für Frieden und Rechtsstaatlichkeit auch zu Mitteln der Gewalt gegriffen werden kann.
Das gilt dann auch für einen Tötungsversuch – wie der vom 20. Juli 1944?
Da betrachten wir ja die Frage, ob und wie der Tyrannenmord gerechtfertigt werden kann. Der ist laut Thomas von Aquin nur erlaubt, wenn durch ihn Mord und Totschlag beendet wird und gleichzeitig ein Plan für eine gerechtere Zukunft besteht.
Für den Widerstand im Nationalsozialismus und für den 20. Juli heißt das: Die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus konnte nur durch den Tod Hitlers gestoppt werden. Die Männer und Frauen des 20. Juli hatten Pläne für die Zeit danach: Ihnen ging es unter anderem darum, den Krieg und die Vernichtung der Juden zu stoppen. Sie hatten zudem aber auch ein Ziel für die Zukunft im Auge: die Bildung eines Rechtsstaates. Sie haben es so formuliert: Die Wiederherstellung der Majestät des Rechts.
Das Gespräch führte Eva Hornauer
Am 4. November findet ab 18 Uhr der Vortrag „20. Juli 1944. Stauffenberg und seine Familie“ im Rahmen der Ringsvorlesung an der Vinzenz Pallotti University statt. Der Eintritt ist frei. Zusätzlich soll die Veranstaltung via Livestream übertragen werden. Weitere Informationen gibt es unter diesem Link.