Hinter den Kulissen der Justiz
Richter Stieber: „Hier kann ich sagen, was ich will“
Christoph Stieber im Gespräch mit RZ-Reporter Matthias Kolk.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Nicht im Gerichtssaal, sondern im Beratungszimmer passiert die entscheidende Arbeit fürs Urteil, sagt Christoph Stieber. Im Interview verrät der Koblenzer Richter, was hinter den Kulissen einer Verhandlung passiert – und warum das so geheim ist.

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Wenn der Richter durch sie in den Gerichtssaal tritt, stehen alle auf. Wenn der Richter durch sie den Saal verlässt, wird meist geheim beraten: Die Tür zwischen Gerichtssaal und Beratungszimmer trennt zwei elementare Arbeitsbereiche eines Richters voneinander.

Der eine Teil ist meist öffentlich, der andere immer geheim. Aber was machen Richter, wenn sie sich zur Beratung zurückziehen? Unsere Zeitung blickt anlässlich der Woche der Justiz zusammen mit Richter Christoph Stieber hinter die Kulissen. Im Interview verrät der Vorsitzende des Asylsenats am Oberverwaltungsgericht Rheinland-Pfalz, warum so geheim ist, was im Beratungszimmer passiert.

Christoph Stieber ist Vorsitzender des Asylsenats des Oberverwaltungsgerichts Rheinland-Pfalz.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Herr Stieber, Sie haben gerade den Gerichtssaal durch die Tür zum Besprechungsraum verlassen, um nach einer langen Verhandlung zusammen mit Ihren Senatskollegen und den ehrenamtlichen Richtern eine Entscheidung zu treffen. Welche Gedanken gehen Ihnen durch den Kopf, wenn Sie durch die Tür gehen?

Mein erster Gedanke heute war, erst einmal die Robe auszuziehen, weil es so warm war (lacht). Aber im Ernst: Da rattert einem einiges durch den Kopf, vor allem, wenn man sich für eine Zwischenberatung zurückzieht. Man filtert: Was ist für unsere Entscheidung erheblich? Man spielt Szenarien durch: Welche rechtlichen Folgen hat es, wenn der Vortrag des Klägers zutreffend ist? Was, wenn nicht? Müssen wir noch Beweise erheben? Wo stehen wir?

Schlicht, aber wichtig: das Beratungszimmer der Richter.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Wichtig ist es auch immer, dass wir die ehrenamtlichen Richter mitnehmen. In Berufungsverfahren entscheidet der Senat in der Besetzung mit drei Berufsrichtern und zwei ehrenamtlichen Richtern. Es ist wichtig, die Ehrenamtlichen in die Lage zu versetzen, fundiert mitentscheiden zu können. Und noch etwas ist beim Rausgehen aus dem Sitzungssaal wichtig: Als Vorsitzender ermahne ich manchmal die Kollegen, dass erst über das Verfahren gesprochen wird, wenn die Tür wieder zu ist. Da muss man aufpassen.

Ich vermute, weil das, was Sie besprechen, geheim ist. Aber warum ist das so wichtig?

Das Beratungsgeheimnis ist wichtig, um die Offenheit in der Beratung zu schützen. Es sichert letztlich die Unabhängigkeit der Richterinnen und Richter. Hier kann ich sagen, was ich will, und argumentieren, wie ich möchte. Ich muss mich in dem Moment nicht einer öffentlichen Meinung verpflichtet fühlen. Ein Gericht spricht nach außen durch seine Entscheidungen. Ist die Entscheidung mit einer Mehrheit der Stimmen getroffen, darf es nicht mehr interessieren, ob in der Beratung jemand die Dinge anders gesehen hat. Ich dürfte Ihnen – anders als bei Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts – nicht einmal sagen, ob ein Urteil letztlich mit einer Mehrheit von fünf, vier, oder drei Stimmen zustande gekommen ist.

Ein Glas Wasser, die wichtigsten Unterlagen und Gesetzesbücher dürfen im Beratungszimmer nicht fehlen.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Welche Bedeutung hat die Zeit, die Sie zusammen im Besprechungsraum verbringen, für Ihre Arbeit?

Wir brauchen diese Zeit zum Einordnen, zum Gedankenaustausch, zum kritischen Hinterfragen. Wir fordern die Sichtweisen jedes Einzelnen ein. Wir spiegeln uns gegenseitig. Ich glaube, genau das macht Entscheidungen besser. Das ist die Arbeit auf dem Weg zum Urteil.

Im Gerichtssaal sind Sie in der Rolle des Vorsitzenden, Sie leiten die Sitzung und stehen oft im Mittelpunkt. Können Sie diese Rolle hinter der Tür im Beratungszimmer ablegen?

Die Frage, die insoweit mitschwingt, ist ja, ob ich als Vorsitzender die anderen bei ihrer Stimmabgabe beeinflussen könnte. Das Gute ist, viele Fragen, die wir uns stellen, hat der Gesetzgeber auch gesehen und gibt hier klare Regeln vor. In welcher Reihenfolge abgestimmt wird, ist gesetzlich genau beschrieben, und als Vorsitzender gebe ich meine Stimme zuletzt ab. Damit will man vermeiden, dass die anderen Richterinnen und Richter – salopp formuliert – nur abnicken, was der Vorsitzende da so vorschlägt. Die Rolle des Vorsitzenden im Besprechungsraum auch mal abzulegen, ist also durchaus gewollt. Er ist einer von fünf und jeder hat eine Stimme. Der Vorsitzende könnte auch von den anderen überstimmt werden.

Hinter dieser Tür befindet sich das Beratungszimmer, in dem sich Christoph Stieber zusammen mit seinen Kollegen aus dem Asylsenat während einer Verhandlung bespricht.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Als Richter im Asylsenat haben Sie oft mit schweren Schicksalen zu tun, mitunter geht es um Menschen, denen in ihrem Heimatland Schlimmes drohen könnte. Sprechen Sie hinter der Tür auch mal darüber, was das emotional mit Ihnen macht?

Wir treffen Entscheidungen, bei denen es für die Betroffenen um ganz viel geht. Und ich glaube, das kann ich so offen sagen: Ich habe für jeden Verständnis, der für sich oder seine Familie ein besseres Leben sucht. Gleichzeitig geht es nicht um Verständnis, sondern um die Anwendung und Durchsetzung der gesetzlichen Vorgaben. Und dabei ist letztlich festzustellen, dass nur ein gewisser Anteil der Betroffenen internationalen oder nationalen Schutz zugesprochen bekommt.

Christoph Stieber im Gespräch mit RZ-Reporter Matthias Kolk.
Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Mit Blick auf Emotionalität ist zu sehen, dass wir uns hier vor Gericht in einem verfahrensrechtlich geordneten und sachlich strukturiertem Rahmen bewegen. Es macht emotional einen Unterschied, ob ich einen Aktenvermerk dazu lese, dass ein Betroffener von seiner Flucht nach Europa mit dem Boot erzählt, oder ob ich miterlebe, wie auf einer griechischen Insel Geflüchtete aus Booten steigen. Aber klar, man nimmt Fluchtschicksale oder andere Geschichten auch mal mit nach Hause und spricht auch mit Kollegen darüber.

Was ist herausfordernder: die Arbeit im Beratungszimmer oder die im Gerichtssaal?

Die höhere Spannung habe ich in der mündlichen Verhandlung. In der Verhandlung ist man sehr wach und aufmerksam. Die Sinne sind geschärft, man hört genau zu, protokolliert. Nach ein paar Stunden verhandeln ist man echt platt. Natürlich kann es bei der anschließenden Beratung auch sehr anspruchsvoll zugehen. Aber hier ist der Austausch ungezwungener. Ich brauche hier nicht auf Formalitäten zu achten. Da hilft auch das Beratungsgeheimnis wieder. Ich würde sagen, eine Stunde Sitzungsleitung ist anstrengender als eine Stunde Beratung.

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Mirco Klein. Mirco Klein/ Rhein-Zeitung

Sind Sie im Beratungszimmer immer Richter Stieber oder auch mal der Mensch Stieber?

Ich glaube, es ist eine Frage der Persönlichkeit, wie viel oder wenig der hinter dem Amt stehende Mensch im Richteramt zum Vorschein kommt. Für mich selbst kann ich sagen, dass ich nicht um jeden Preis eine Rolle einnehmen oder halten muss. So wie ich bin, fülle ich auch mein Amt aus, sodass zwischen dem Richter und dem Menschen kein großer Unterschied bestehen sollte. Dabei ist natürlich klar, dass man insbesondere in einem geschützten Umfeld wie dem Beratungszimmer, bildlich gesprochen auch mal Robe und Krawatte ausziehen kann. Aber auch dann bleibt man selbstredend Richter.

Wenn Sie an diese Tür denken, die den öffentlichen Rahmen einer Verhandlung vom geheimen Raum der Beratung trennt. Was bedeutet diese Tür für Sie?

Ja, man könnte die Tür zum Beratungszimmer als Trennlinie zwischen Öffentlichkeit auf der einen und Beratungsgeheimnis auf der anderen Seite auch mystifizieren. Aber es ist in meinen Augen nicht wie bei einem Musiker, der noch hinter der Bühne im Dunkeln steht und beim Betreten der Bühne von seinen Emotionen und dem Publikum weggeweht wird. Dafür ist der Gerichtssaal nicht der richtige Ort. Ich kann insoweit natürlich nur für mich sprechen, aber ich bin an einem Sitzungstag generell so auf die Verfahren, die Sitzung und die sonstigen Abläufe, fokussiert, dass die Tür gar keine große Zäsur darstellt. Sie ist einfach Teil des Ganzen.

Familienvater und Eintracht-Anhänger

Christoph Stieber ist seit drei Jahren Vorsitzender des Asylsenats des rheinland-pfälzischen Oberverwaltungsgerichts in Koblenz. Zuvor war der 45-Jährige unter anderem Leitender Ministerialrat in der Staatskanzlei Rheinland-Pfalz und wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Stieber ist gebürtiger Hesse mit einem Herz für Eintracht Frankfurt, verheiratet, Vater von drei Kindern und wohnt mit seiner Familie in Koblenz.

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