Ein Foto von dem verunstalteten Plakat ging am Mittwoch viral. In den sozialen Medien herrschte großes Entsetzen über das, was da öffentlich an die Wahlwerbung geschrieben wurde. Marlon Reinhardt, selbst Sinto, genauso wie sein auf dem Plakat erwähnter Vater Django, kommt an jenem Tag kaum zum Arbeiten. Unzählige Menschen erkundigen sich bei ihm, wollen mit ihm reden, ihm Mut zusprechen, erzählt er im Gespräch mit der RZ. Das Mitgefühl ist riesig. Er selbst sagt zu dem Vorfall: „Ich bin alt genug, um damit umgehen zu können. Aber dass wer auch immer da meinen Vater (Django, Anm. d. Red.) mit reinzieht und alle Sinti und Roma … das ist Antiziganismus.“
Tatort Goldgrube
Antiziganismus bezeichnet die rassistische Diskriminierung von Sinti und Roma. Was Reinhardt besonders schockiert: Die Tat ereignete sich ausgerechnet in der Goldgrube, dem Stadtteil, in dem er aufgewachsen ist. Dort, genauer in der Bogenstraße und in der Diesterwegstraße, hatte Reinhardt erst einen Tag zuvor am Dienstag Wahlplakate von sich aufgehängt. „Ich hatte bisher noch nicht viel Zeit für Wahlkampf, deswegen habe ich jetzt erst damit angefangen.“ Sein Heimatstadtteil, so habe er gedacht, sei ein guter Ort, um die ersten Plakate anzubringen.
Am Mittwochmorgen fuhr Reinhardt dann mit seinem Sohn zum Sporttraining durch die Goldgrube. „Ich wollte ihm zeigen, wo die Plakate von seinem Papa jetzt hängen. Als wir in der Bogenstraße ankamen, hat mein Sohn mich dann gefragt: ,Papa, wieso sind denn deine Augen ausgestochen?'“ Danach habe er sich das Plakat genauer angeschaut und den Satz gelesen, erzählt Reinhardt weiter.
Papa, wieso sind denn deine Augen ausgestochen?
Dies habe sein Sohn ihn gefragt, als er das Wahlplakat sah, so Reinhardt.
Die Freien Wähler, für die der gebürtige Koblenzer bei der Stadtratswahl kandidiert, veröffentlichten ein Foto des Plakats wenig später in den sozialen Medien. Dazu schrieb die Partei: „Nie wieder ist jetzt! Freie Wähler Koblenz verurteilen auf das Schärfste die feige, offenkundig rassistische und menschenfeindliche Anfeindung!“ Es handele sich um einen „übelsten rassistischen Spruch mit offenkundig nationalsozialistischem Gedankengut“. Dies sei ein „feiger und zutiefst verachtenswerter Akt“.
Viele Menschen verurteilten in Kommentaren den Vorfall zutiefst und sprachen Reinhardt ihre Solidarität aus. Stephan Wefelscheid, Vorsitzender der Freien Wähler in Koblenz, teilte unserer Zeitung mit, er habe im Namen der FW-Kreispartei Anzeige gegen Unbekannt wegen Volksverhetzung erstattet.
Polizei leitet Verfahren wegen Volksverhetzung ein
Bereits am Mittwoch wurde das Plakat aus der Bogenstraße entfernt. Es sei durch einen Bürger abgehängt und von der Polizei beschlagnahmt worden, teilte ein Sprecher des Koblenzer Polizeipräsidiums auf Nachfrage unserer Zeitung mit. Außerdem sei ein Ermittlungsverfahren gegen Unbekannt wegen Volksverhetzung, verhetzender Beleidigung und Sachbeschädigung eingeleitet worden. „Die Hassnachricht richtet sich hier konkret an eine Bevölkerungsgruppe und eine Einzelperson“, so die Polizei.
Wissen Sie, wann etwas „latsches” ist? Wann man mit dem „Tschuglo” rausgeht und mit dem „Wasty” telefoniert? Die Sprache der Sinti und Roma ist eng mit der Koblenzer Subkultur verwoben – darum geht es in unserem neuen Podcast.„Latscho Diewes“ mit Marlon Reinhardt: Wie die Sprache der Sinti Koblenz prägt
Das Strafmaß der Volksverhetzung sieht laut Angaben der Polizei eine Freiheitsstraße von drei Monaten bis zu fünf Jahren vor. Sachbeschädigung sowie verhetzende Beleidigung sehen Freiheitsstrafen von bis zu zwei Jahren oder eine Geldstrafe vor.
Auf die Frage, ob er in seinem Leben schon mal rassistisch beleidigt worden sei, antwortet Marlon Reinhardt: Ein paar blöde Sprüche über Sinti und Roma habe es früher während seines Studiums mal von Dozenten in der Uni gegeben, „aber in Koblenz habe ich bis heute noch nie Anfeindungen erlebt“. Umso schlimmer: Aus Reinhardts „noch nie“ ist in dieser Woche „einmal“ geworden.
Der Völkermord der Nazis an Sinti und Roma
Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden Sinti und Roma systematisch verfolgt und ermordet. 1982 erkannte der damalige Bundeskanzler Helmut Schmidt den Völkermord an Sinti und Roma als solchen an. Seit 1994 ist in Deutschland der 16. Dezember ein nationaler Gedenktag für die Verfolgung der Sinti und Roma durch das NS-Regime. Aus Koblenz wurden mehr als 160 Sinti und Roma in Konzentrationslager wie Auschwitz-Birkenau verschleppt. Über die genaue Zahl der ermordeten Sinti und Roma gibt es nur grobe Schätzungen. In Deutschland und Österreich wurden nach Informationen der Bundeszentrale für politische Bildung rund 25 000 Sinti und Roma von den Nazis ermordet.