Wer denkt, Sex für Geld ist eine gesellschaftliche Randerscheinung, der irrt sich. „Prostitution findet mitten in der Gesellschaft statt“, sagt Christine Bangert. Seit 15 Jahren arbeitet die Sozialpädagogin für die Beratungsstelle Roxanne von Pro Familia in Koblenz. In Bordellen, in Wohnwagen oder auf dem Straßenstrich, wo andere hingehen, um ihre Lust zu befriedigen, kommt sie mit Sexarbeiterinnen ins Gespräch, unterstützt sie bei rechtlichen Fragen, hilft ihnen, wenn es Probleme gibt. Roxanne ist für Frauen da, deren Arbeit mitten in der Gesellschaft stattfindet, aber die selbst oft am Rand stehen. Zum 15-jährigen Bestehen der Beratungsstelle erklären Bangert und Pro Familia-Geschäftsführer Achim Klein, was Frauen in die Sexarbeit treibt, wie Gesetze die Arbeit von Roxanne erschweren und was eine englische Rockband mit alldem zu tun hat.
2009 waren Sie die erste Beratungsstelle für Prostituierte in Rheinland-Pfalz. Wie kam es dazu?
Achim Klein: Das war zunächst mal eine Initiative des Landes. Ursprüngliches Ziel war es, Frauen Hilfen zum Ausstieg anzubieten und sie dabei zu begleiten. Pro Familia hat sich diesem Thema angenommen, weil wir gesagt haben, das ist sehr nah an uns dran als Fachverband für Sexualität und Sexualpädagogik. Sexualität ist die Arbeit von Sexarbeiterinnen. Deswegen haben wir uns damals auf die Ausschreibung beworben.

Ihre Arbeit lebt seither davon, Frauen aktiv aufzusuchen, um sie zu unterstützen. Wie wurde das damals im Milieu aufgenommen? Sie wurden von den Frauen ja nicht bestellt.
Christine Bangert: Das stimmt, wir wurden nicht bestellt. Die Frauen haben auf uns trotzdem eher positiv reagiert. Das Sexgewerbe ist ein Reisegewerbe, einige kannten Beratungsstellen daher schon aus größeren Städten wie Hamburg oder Berlin. Schwierigkeiten hatten wir am Anfang eher mit den Betreibern. Die waren sehr skeptisch. Ich glaube, viele hatten tatsächlich Angst, dass wir nun alle Frauen zum Ausstieg bewegen möchten. Aber das war gar nicht unser Auftrag. Mit der Zeit kamen auch von ihnen mehr interessierte Nachfragen und sie wurden aufgeschlossener.
Ihre Beratungsstelle heißt Roxanne. Warum ausgerechnet dieser Name?
Klein: Das ist relativ einfach: Es gibt einen Song von The Police, der so heißt. Der Song erzählt, wie Frontsänger Sting aus einem Hotelfenster schaut und auf der Straße eine Prostituierte sieht. Daraus entspinnt sich ein innerer Dialog, der auch Wertschätzung gegenüber der Frau zeigt. Für uns war der Name dann ganz naheliegend.
Sie haben tiefe Einblicke ins Milieu. Welche Vorurteile, die in der Gesellschaft über das Rotlicht herumwabern, treffen aus Ihrer Sicht in der Realität nicht zu?
Klein: Ich glaube, viele denken, alle Frauen arbeiten unter Zwang. Ja, Zwang und Druck gibt es. Und der wird auch für uns nicht in jeder Weise sichtbar. Was wir aber schon differenzieren können und auch müssen, ist: Es gibt Zwang durch Personen, Kriminelle, die Frauen ausnutzen und ausbeuten. Aber noch häufiger sehen wir: Frauen sehen sich aus den wirtschaftlichen Verhältnissen in ihren Herkunftsländern dazu getrieben, in Arbeitsmigration zu gehen. Mit wenigen Sprachkenntnissen oder niedrigem Bildungsniveau ist es ausgesprochen schwierig, einen guten Job zu finden. Viele Frauen gehen dann in die Erntearbeit oder in Dienstleistungsbereiche, wo sie unter prekären Bedingungen arbeiten. Dazu gehört dann auch die Sexarbeit. Wir haben eher nicht den Eindruck, dass jemand beschließt: „Es wäre doch schön, in der Sexarbeit zu arbeiten.“ Da gibt es sicher Personen, aber das ist nicht die Mehrheit.

Bangert: Ich glaube, oft sieht die Gesellschaft in Prostitution entweder das schillernde Rotlichtmilieu oder das absolute Elend, wo alle Frauen Opfer sind und nur ganz unangenehme Typen hingehen. Aber Prostitution findet mitten in der Gesellschaft statt. Die Freier kommen aus allen Schichten, viele Familienväter sind dabei. Demgegenüber stehen viele Frauen, denen es wichtig ist, gesetzeskonform zu arbeiten, eigenes Geld zu erarbeiten und dahingehend unabhängig zu sein.
Seit 15 Jahren haben Sie Einblicke in das Rotlichtmilieu: Hat es sich verändert oder ist die Szene sehr stetig?
Bangert: Die Migration im Milieu hat sehr zugenommen. Mittlerweile kommen bei uns 80 bis 90 Prozent der Frauen aus dem Ausland, vorwiegend aus Rumänien und Bulgarien und immer mehr auch aus Lateinamerika. Viele sprechen kaum Deutsch. Das macht unsere Arbeit schwieriger.
Klein: Es hat sich viel verändert durch die Gesetzgebung. In der Coronazeit ist viel Vertrauen in den Staat verloren gegangen, da gab es ja Arbeitsverbote im Sexgewerbe und auf Strecke so gut wie keine Coronahilfen, die es für andere Branchen ja gab. Dann ist es so, dass mittlerweile die Finanzbehörden massiver auftreten, was viele überfordert. Im Moment befürchten wir, dass sich die Gesetzgebung eher noch verschärfen wird, diskutiert wird zum Beispiel das sogenannte Nordische Modell der Freierbestrafung. Das Problem ist: Wenn wir Länder anschauen, wo dieses Modell gefahren wird, wie in Frankreich, haben wir den Effekt, dass Prostitution dann eben im Verborgenen stattfindet, jenseits von staatlicher Kontrolle, jenseits von Erreichbarkeit für Beratungsstellen. Gute Arbeitsbedingungen, für die wir eintreten, sind dann nicht mehr möglich. Es wäre wirklich naiv zu meinen, dass Prostitution durch strengere Gesetze verschwindet. Sie verlagert sich nur.
2017 ist das Prostituiertenschutzgesetz in Kraft getreten. Ziel war es, Frauen im Milieu besser zu schützen. Sie standen dem Gesetz damals kritisch gegenüber. Warum? Und haben sich Ihre Vorbehalte bewahrheitet?
Bangert: Ein kritischer Aspekt war für uns, wie Frauen sich behördlich anmelden müssen. Das kostet sie nämlich Geld. Wenn ich als Staat aber Sexarbeit gar nicht so gut finde und auf der anderen Seite Auflagen schaffe, durch die Frauen noch mal drei Freier mehr machen müssen, um so eine Gebühr zu bezahlen, widerspricht sich das. Schwierig war und ist auch die vorgegebene Trennung vom Arbeitsort und dem Zuhause. Es steht ja kaum Wohnraum zur Verfügung. Da schlagen jetzt eher Vermieter und Betreiber finanziellen Profit aus dem Gesetz, als dass es den Frauen hilft.
Klein: Wenn Frauen sich keine Extrawohnung leisten können, dann nehmen sie eher den Bordellplatz und die Abhängigkeit in Kauf oder begeben sich in die Unsicherheit der Straße. Es ist wichtig zu schauen: Welche Strukturen begünstigen eher ausbeuterische Arbeitsverhältnisse bis hin zu kriminellen Hinterleuten und welche Strukturen könnten Sexarbeiterinnen wirklich zugutekommen? Da hat man bisher noch nicht das Richtige gefunden, ist mein Eindruck.

Sexarbeiterinnen in Koblenz: Von wie vielen reden wir da?
Bangert: Offiziell angemeldet sind allein in der Stadt Koblenz derzeit schätzungsweise rund 230, zusammen mit der umliegenden Region sind es an die 300, würde ich sagen.
Warum ist es wichtig, dass es Ihre Beratungsstelle gibt?
Bangert: Weil Prostituierte keine Lobby haben. Über das Rotlichtmilieu und Sexarbeit gibt es viele Klischees. Deshalb finden wir es wichtig zu gucken, wie es wirklich aussieht und das in die Öffentlichkeit zu transportieren. Mir liegt es sehr am Herzen, den Frauen eine Stimme zu geben und dass sie in ihrer Berufswahl zufrieden und menschenwürdig arbeiten können. Oder dass Strukturen geschaffen werden, über die ein Arbeitsumstieg tatsächlich möglich ist.
Klein: Wir haben den Auftrag einer psychosozialen Versorgung für die Frauen. Es geht darum, dass Menschen Schutz erfahren, die in unserer Mitte der Gesellschaft eine Tätigkeit ausüben.
Aktuelle Debatten um neue Gesetze sehen Sie durchaus kritisch. Was braucht es aus Ihrer Sicht, um die Arbeitsbedingungen der Frauen wirklich zu verbessern?
Klein: Als Beratungsstelle würden wir gerne noch näher dran sein können. Wir sprechen da konkret von Räumlichkeiten möglichst nah am Straßenstrich, vielleicht ein Container. Aber als Verein, der auf Spenden angewiesen ist, können wir uns das nicht leisten.
Bangert: Ein Container mit Waschmaschine, wo die Frauen duschen können, wo Ärzte hinkommen könnten, so ein niederschwelliges Angebot vor Ort wäre wirklich ein Traum. Gesellschaftspolitisch ist uns wichtig, dass ein Sexkaufverbot nicht ständig im Raum steht, sondern man sich stattdessen Gedanken nach Lösungen macht, sich mit Beratungsstellen und Berufsverbänden auseinandersetzt. Mir ist dabei auch wichtig, die Freier mit in unsere Arbeit einzubeziehen. Ich träume immer noch von einer großen Werbung abends vor der Tagesschau, in der es heißt: Wenn du zur Prostituierten gehst, lass deinen Respekt nicht zu Hause.