Der Anruf erreicht Sandra Wint, als sie gerade zur Haustür hereinkommt. Am anderen Ende der Leitung ist die Mutter eines Kindes, das in dem Bus sitzt: Marlon, sagt die Mutter, sei vom Fahrer nicht mitgenommen worden und stehe nun ganz allein in Mülheim-Kärlich. Wint, die als Flugbegleiterin gerade vom Flughafen nach Hause kommt, ist alarmiert. Denn es ist das erste Mal, dass der Zehnjährige mit dem Bus aus der weiterführenden Schule nach Hause fahren soll, zuvor haben ihn seine Eltern immer abgeholt.
Emotional und aufgelöst gewesen
„Ich habe nur schnell meine Koffer abgestellt und bin dann sofort losgefahren“, erzählt Wint, die mit zwei ihrer drei Kinder in Kaltenengers lebt; die Tochter ist bereits ausgezogen, ihr Mann arbeitet für die amerikanische Botschaft im Ausland. Und sie hat Glück: Bei der Ampelkreuzung am Bauhaus Mülheim-Kärlich entdeckt sie Sohn Marlon, der gerade über die Leitplanke klettert und dabei ist, auf eigene Faust nach Kaltenengers zu laufen. Sofort schaltet Wint den Warnblinker ein und läuft zu ihrem weinenden Sohn.
Er sei emotional so aufgelöst gewesen, sagt Wint, dass er erst gar nicht auf Fragen habe antworten können. Marlon selbst sagt, dass er sehr froh gewesen sei, als er seine Mutter gesehen habe, und dass ihn die Situation mit dem Busfahrer wütend gemacht habe. Entsprechend groß ist die Wut auch noch zwei Tage nach dem Vorfall: „Unmöglich finde ich das!“, beschwert sich Wint, als wir sie und Marlon für ein Gespräch an der Haltestelle am Schulzentrum in Mülheim-Kärlich treffen.
Weil es dieselbe Uhrzeit ist, stehen einige Kinder an der Haltestelle, die damals in dem Bus gesessen haben, in den Marlon nicht einsteigen durfte. Sie schildern den Vorfall so: Als Marlon am 20. September gegen 16.30 Uhr in den Bus der Linie 338 steigen will, verweigert der Fahrer ihm den Zutritt, weil er keine Maske trägt. Die Kinder bieten dem Fahrer daraufhin an, Marlon eine Maske zu geben, das aber habe der Fahrer abgelehnt, erzählen die Kinder, er sei dann einfach ohne den Fünftklässler losgefahren.
Aussage gegen Aussage
Zuvor war Marlon mit einer anderen Linie aus Weißenthurm angekommen, denn seine Klasse wird dort in der Außenstelle der Mülheim-Kärlicher Realschule plus unterrichtet. Und da am Nachmittag kein Bus direkt nach Kaltenengers fährt, muss Marlon in Mülheim-Kärlich umsteigen. Der erste Fahrer lässt ihn an diesem Tag ohne Maske und mit einer Ermahnung mitfahren – der Busfahrer in Mülheim-Kärlich nicht. Tragischer-weise, sagt Wint, habe Marlon sogar Masken bei sich gehabt, er sei sich dessen nur nicht bewusst gewesen.
Und was meint der Busfahrer selbst dazu? Auf Anfrage der RZ erklärt Kim Alexander Zickenheiner, Assistent der Geschäftsführung bei dem Koblenzer Busunternehmen Zickenheiner, dass man zwar den Auftrag für die Linie vom Kreis bekommen habe, Zickenheiner aber für die Ausführung ein anderes Verkehrsunternehmen beauftragt habe. Um welches es sich handelt, will Zickenheiner ohne die Erlaubnis des Subunternehmers nicht sagen – aber er hat eine Stellungnahme. „Der Fahrer hat mitgeteilt, dass er immer alle Kinder mitnehme, unabhängig davon, ob sie eine Maske dabei haben oder nicht. An den Vorfall könne er sich daher nicht erinnern“, gibt Zickenheiner die Worte des Busfahrers wieder. Es steht also Aussage gegen Aussage.
Zickenheiner erklärt, dass er deshalb nicht bewerten könne, wie die Situation abgelaufen sei. Dass Marlon zu Fuß unterwegs gewesen sei, stelle er aber nicht infrage und auch nicht, dass es ein sehr belastendes Erlebnis für ihn gewesen sein muss: „Generell bedauern wir es natürlich, dass es zu einer sehr stressigen Situation für den Jungen gekommen ist. Ein Vorfall dieser Art ist sicherlich auch für die Eltern mit großen Sorgen verbunden“, sagt Zickenheiner.
Kommt so etwas häufiger vor?
Ähnlich sieht das Marlons Schulleiter: „Das ist sehr unglücklich gelaufen, vor allem, weil es sich um einen Fünftklässler handelt“, sagt Gerhard Müller, Direktor der Realschule plus in Mülheim-Kärlich. Und die Kreisverwaltung Mayen-Koblenz schreibt auf Anfrage: „Sofern sich (…) der Vorfall wie geschildert zugetragen hat, erschließt sich uns das Handeln des Fahrers nicht.“
Deutliche Worte findet Colin Haubrich, Vorstandsmitglied der Landesschüler*innenvertretung (LSV) Rheinland-Pfalz, als wir ihm den Vorfall, so wie Marlon und die anderen Kinder ihn beschreiben, schildern. „Das ist auf keinen Fall in Ordnung“, findet Haubrich und betont, dass das ein „No-go-Verhalten“ des Fahrers gewesen sei, vor allem wenn tatsächlich Masken durch andere Kinder zur Verfügung gestanden haben. Dazu komme der moralische Aspekt, der mit dem Zurücklassen des Zehnjährigen an der Haltestelle einhergehe.
Kommt so etwas häufiger vor? Haubrich erklärt, dass er von ähnlichen Vorfällen zwar immer mal wieder höre, es bei der LSV aber bisher keine Beschwerden gegeben habe. Dem Kreis sind ähnliche Fälle nicht bekannt, und auch Schulleiter Gerhard Müller sagt, dass sich nach dem Ende der Sommerferien bisher niemand deshalb bei ihm beschwert habe. Angesprochen darauf, ob die Maskenpflicht generell für Probleme im ÖPNV sorge, erklärt Kim Alexander Zickenheiner: „Es ist keine Thematik, die uns allzu lange beschäftigt hat.“ Lediglich zu Beginn der Maskenpflicht sei es zeitweise ein Thema gewesen. Und Colin Haubrich von der LSV schlägt eine praktische Lösung vor, um solche Fälle wie den von Marlon zukünftig zu verhindern: „Es würde sicherlich nicht schaden, eine Packung mit Ersatzmasken in die Busse zu legen“, findet er.