Koblenzerin plädiert für mehr Rücksichtnahme, die allen zugute käme
Koblenzerin plädiert für mehr Rücksichtnahme: Blinde Frau fühlt sich erst durch andere behindert
Die Koblenzerin Marion Franzen kommt sehr gut allein zurecht – wenn sie nicht von ihrer Umwelt behindert wird. Foto: Doris Schneider
Doris Schneider

Eigentlich sind es die kleinen, alltäglichen Ärgernisse, über die Marion Franzen berichten will. Es ist nichts Dramatisches passiert, es gab keinen Unfall. Aber es hätte was Dramatisches passieren können, es hätte mehr als einmal einen Unfall geben können. Denn Marion Franzen ist nahezu blind – und sie ist trotzdem sehr aktiv, geht viel raus, reist. Dabei werden ihr aber immer wieder Steine in den Weg gelegt – oft genug im ganz wörtlichen Sinn.

Die 53-Jährige sitzt auf einer Bank am Rhein, blickt angestrengt auf die Notizen in großer schwarzer Filzstiftschrift, die sie sich als Vorbereitung für das Treffen mit der RZ gemacht hat. Mit einer speziellen Lupenbrille kann sie sie lesen. Ganz oben steht für sie: Rücksichtnahme. Die fordert sie nämlich vehement von allen Menschen – und für alle. Denn es geht ihr nicht nur darum, dass Blinde besser geschützt werden, sondern auch alle Menschen mit Handicaps, ältere Menschen, Kinder ... Die Liste ließe sich im Zweifelsfall auf alle ausdehnen.

Von einem Vorfall, der sich kürzlich ereignet hat, erzählt Marion Franzen, die schon als Kind schlecht sah, aufgrund einer erblich bedingten Augenkrankheit aber vor allem seit dem 16. Lebensjahr immer mehr Augenlicht eingebüßt hat. Das hindert sie nicht daran, rauszugehen. Auch joggen auf der Wasserwerksrunde ist eigentlich kein Problem, sie ist mit Stock und einer Freundin unterwegs und kennt sich sehr gut aus. „Aber da ging gar nichts mehr. Da sausten E-Bikes und Leute mit Radanhänger nur so von allen Seiten an mir vorbei“, erzählt sie. „Ich wusste irgendwann gar nicht mehr, wie ich da rauskommen sollte, und habe gebrüllt: ,Jetzt passen Sie mal auf, machen Sie mal die Augen auf! Ich kann es nämlich nicht!“

Nur einen Tag später, als sie in der Stadt unterwegs war, parkte ein Lieferwagen auf einem Gehweg, der sie völlig durcheinanderbrachte. Als er auf ihrem Rückweg nach sicher eineinhalb Stunden immer noch dastand, reichte es ihr: „Ihr fahrt den jetzt weg, sonst ruf ich das Ordnungsamt“, drohte sie den Arbeitern. Denn was so scheinbar kleine Verstöße für Menschen bedeuten, die sich nur schwer orientieren können, das sehen viele gar nicht. So berichtet Marion Franzen von einem Freund, der mit dem Kopf in einen geparkten Lieferwagen hineinlief und sich verletzte.

Aber es sind nicht nur die persönlichen kleinen Fehler Einzelner, die zum Beispiel für Blinde in einer Katastrophe münden können. Es sind oft außerdem die Regeln und Strukturen selbst, die ihr Leben schwierig machen – viel schwieriger als es ein müsste. Denn die 53-Jährige, die in Vallendar aufgewachsen ist und schon lange in Koblenz lebt, hat es gelernt, sich zu orientieren und allein klarzukommen. Sie fährt auch Bus und manchmal auch noch Bahn – „obwohl ich mich da nicht mehr so wohlfühle.“ Denn ein paarmal hat sie erlebt, dass angetrunkene Männer andere Personen blöd anmachten, und auch wenn es gar nicht gegen sie selbst ging, fühlt sie sich mit solchen Situationen nachvollziehbarerweise nicht sicher.

Zu Fuß mit dem Stock in der Stadt ist es aber eigentlich überhaupt kein Problem. Wenn da nicht so viele Wege wären, auf denen Radfahrer und Fußgänger gemeinsam unterwegs sein sollen. „Das sollte unbedingt getrennt sein, eine Katastrophe“, findet Franzen, die lange als Erzieherin und später nach einem Studium als Sozialarbeiterin tätig war, unter anderem beim ZSL, Zentrum für selbst bestimmtes Leben behinderter Menschen. An vielen Stellen vermisst sie auch Poller, die Radfahrer erst einmal zwingen würden abzusteigen. Außerdem sind Gehwege oft zugeparkt, Blindensignale an Ampeln funktionieren nicht immer, und wenn sie mit ihrem weißen Stock forsch einherschreitet, dann nehmen viele sie als Walkerin wahr.

Insgesamt würde sie sich vor allem mehr Aufmerksamkeit wünschen. „Freundlich fragen, ob man helfen kann“, das fände sie gut. Und nicht einfach am Arm nehmen und über die Straße zerren oder anbrüllen: „Es ist doch grün“, wenn sie an der Ampel stehen bleibt. Auch das ist ihr schon oft passiert.

Franzen, die nun seit zehn Jahren berentet ist, hat gelernt, ihre Umgebung durch andere Sinne als ihre Augen aufmerksam wahrzunehmen. „Das passiert nicht automatisch, dass man als Blinde ein besseres Gehör hat“, sagt sie und lacht. Man muss es üben. Corona fand sie unter diesem Aspekt gar nicht schlecht, weil alles so viel ruhiger war. „Vielleicht kann man das ein bisschen beibehalten, dass man gut aufeinander aufpasst“, sagt sie. Und zwar jeder auf jeden, „egal ob schwarz, weiß oder kariert, egal ob Mann oder Frau oder Trans, egal wen man liebt, egal, an was man glaubt“, sagt sie herzlich.

Spontan hat sie die Idee, am Sonntag um 19 Uhr eine Kerze aufzustellen. „Vielleicht zieht das ja Kreise, so wie ein Stein, den man ins Wasser wirft“, sagt sie. Und wenn nicht, dann nicht. Ganz einfach. So wie vieles ganz einfach sein könnte, wenn Menschen mehr aufeinander schauen würden, sagt sie. Besonders auf die, die nicht sehen können.

Von unserer Redakteurin Doris Schneider

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