Dreher begutachtet und diagnostiziert Erwachsene mit der Aufmerksamkeitsstörung ADHS. Und er macht nichts anderes mehr, weil es so viele sind.
Was passiert, wenn Erwachsene mit ADHS nicht behandelt werden? „Sie sterben“, sagt Dreher ernst. Denn sie passen oft nicht gut auf sich auf, sie entwickeln eher Suchtkrankheiten als andere Menschen, essen oft schlechter, haben mehr Unfälle. Und auch die Suizidrate ist höher.
Und vor allem leiden sie oft furchtbar. Unter dem Gefühl, abgelehnt zu werden, darunter, dass sie sich anstrengen wie verrückt und doch vieles nicht schaffen. Nicht schaffen können. Dabei sind sie oft ganz besondere Menschen, sensibel, kreativ, empathisch, sagt der Koblenzer Psychologe. Zu ihnen gehören Menschen wie Bill Gates, Wolfgang Amadeus Mozart, Emma Watson, Robbie Williams.
Menschen mit ADHS haben viele Probleme – und oft unglaubliche Fähigkeiten
Aber Menschen mit ADHS passen eben nicht in die Norm: Wenn sie etwas begeistert, laufen sie zu Hochformen auf. Aber jeden Tag pünktlich ins Büro zu kommen, das kriegen sie nicht hin: Bei ihnen arbeiten die Gehirne anders. Die Neurotransmitter, also die Botenstoffe, die zwischen den einzelnen Hirnzellen eine Verbindung herstellen, funktionieren nicht so wie bei anderen Menschen, erklärt der Koblenzer seinen Patienten – und verändert damit schon deren Blick auf sich selbst. Bis dahin haben sie oft geglaubt, was ihre Umwelt ihnen spiegelt: Sie sollen sich doch endlich mal mehr Mühe geben, dann würde schon alles gehen.
Dabei bedeutet der Alltag, der Versuch, so zu sein wie andere, oft übermenschliche Anstrengungen für die Betroffenen – und doch reicht es nie, sagt Dreher. Denn wer ADHS hat, ist oft leicht ablenkbar, unruhig, ein wenig chaotisch und unzuverlässig – und eckt damit an. Bei Frauen und Mädchen äußert sich die Funktionsstörung im Gehirn auch zuweilen durch Rückzug, oft sind sie hypersensibel und sehr leicht zu verunsichern. „Sie haben eine Achterbahnfahrt der Gefühle.“ Gepaart sei ADHS oft auch mit einem leichten Autismus, berichtet der Therapeut.
Dass Kinder mit ADHS nicht mindestens ein Elternteil haben, das ebenfalls betroffen ist, kommt vor. Es ist aber sehr selten.
Psychologe Jörg Dreher
Auch Hormone spielen dabei eine Rolle, so kommt es auch, dass ADHS in manchen Fällen im jungen Erwachsenenalter verschwindet, in anderen Fällen beispielsweise in der Menopause bei Frauen erst richtig zum Ausdruck kommt. Und bei ADHS spielt Vererbung eine große Rolle, berichtet der Psychologe und psychologische Psychotherapeut. „Dass Kinder mit ADHS nicht mindestens ein Elternteil haben, das ebenfalls betroffen ist, kommt vor. Es ist aber sehr selten.“ Im Gespräch wird das oft auch den Patienten klar: Die chaotische Mutter, der depressive Vater, die hatten auch ADHS.
Gut betreut kommen Kinder oft halbwegs klar
Oft tritt erst im Erwachsenenalter die Aufmerksamkeitsstörung massiv auf, obwohl es sie schon vorher gab, sagt Jörg Dreher. „Wenn ein Kind eine gute Nische hat – ein liebevolles Elternhaus, ein festes Sozialgefüge, eine gute Struktur –, dann kommt es vielleicht gut und verhältnismäßig unauffällig durch die Schulzeit.“ Aber beim Umzug in eine andere Stadt oder beim Studienbeginn gehe plötzlich nichts mehr, beschreibt Dreher typische Szenarien, die er in seiner Praxis immer wieder hört.
Und was macht man gegen ADHS, wie behandelt man diese Funktionsstörung? Wenn die Patienten eine Art Gebrauchsanweisung für ihr Gehirn haben, hilft das schon ein wenig, sagt Dreher, denn dann können sie zumindest besser verstehen, warum sie stundenlang konzentriert an einer Sache bleiben können, aber bei anderen total unkonzentriert sind. Auch ganz banale Dinge sind extrem wichtig, regelmäßiger Schlaf beispielsweise. Oder Sport. Und auch das Verständnis der Umwelt hilft.
Bei manchen wirken die Medikamente grandios
Und – auch wenn das immer wieder umstritten ist in der Gesellschaft, bei der Behandlung von Kindern noch stärker als bei Erwachsenen: An Medikamenten gehe kaum ein Weg vorbei, sagt Jörg Dreher. Bei etwa 20 bis 30 Prozent seiner Patienten wirken entsprechende Medikamente grandios, berichtet er, bei den meisten anderen gut. Bei einigen indes gar nicht. Gepaart sein müsse die Medikation aber immer mit entsprechenden Verhaltensweisen, Achtsamkeitstherapien und ähnlichem.
Aber es gibt viel zu wenig Ärzte und Institutionen, die sich des Themas annehmen, beklagt der Psychologe, sodass die nötige Diagnose für die Behandlung gar nicht erfolgen kann. Er selbst kann nur etwa jeden sechsten Patienten aufnehmen, sagt er, da der Andrang noch extremer geworden ist und eine Beurteilung zwischen zweieinhalb und drei Stunden dauert. Mehr als zwei Termine am Tag sind nicht möglich, weil das viel zu anstrengend wäre.
Viele muss der Therapeut wegschicken
Menschen, die Eltern sind, nimmt er vordringlich auf, weil er weiß, welcher Belastung sie ausgesetzt sind und dass es Auswirkungen auf eine ganze Familie hat, wenn etwas schief läuft. Auch besonders schwer kranke und sehr junge Menschen versucht er vorzuziehen – aber es ist ein Ritt gegen Windmühlen. „Auch mit Dringlichkeitsanfragen muss ich leider vielen absagen.“ Das fällt ihm schwer. Denn er weiß, was es für die Patienten bedeutet.
Wie viele Menschen haben ADHS?
2 Millionen undiagnostizierte ADHS-Betroffene gibt es laut ADHS Deutschland im ganzen Land. Unter anderem durch einen Film mit und von Eckart Hirschhausen seien viele nun regelrecht aufgewacht, sagt Jörg Dreher – und sie suchen nun nach Behandlungsmöglichkeiten.