Nach belastenden Situationen hat Reinhard Behnke als Landespfarrer für Seelsorge mit Hunderten Beamten gesprochen
Koblenzer Polizeiseelsorger im Interview: „Verletzlichkeit in diesem Beruf ist etwas Problematisches“
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Reinhard Behnke weiß, dass Gewalterfahrungen Spuren bei Polizistinnen und Polizisten hinterlassen können. „Die Verletzlichkeit in diesem Beruf ist auch etwas Problematisches, denn die Polizei muss sich eigentlich unverletzlich zeigen, weil sie die Staatsgewalt repräsentiert.“ Foto: Birgit Pielen
Birgit Pielen

Grenzerfahrungen gehören zum polizeilichen Alltag, hinterlassen mitunter aber Spuren – wie geht man um mit erlebter Gewalt, mit grausamem Kindesmissbrauch, mit Tragödien und Tod, mit Gefühlen der Ohnmacht und Angst? Darüber hat die RZ mit Polizeiseelsorger Reinhard Behnke im Polizeipräsidium Koblenz gesprochen.

Als Landespfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland hat Reinhard Behnke seit 2009 im Gebiet des Polizeipräsidiums Koblenz Beamte und Beamtinnen in Krisensituationen beraten. Jetzt ist er in Rente gegangen und zieht mit uns Bilanz.

Herr Behnke, wann ist die Erkenntnis, dass es bei der Polizei seelsorglichen Bedarf gibt, entstanden?

Ich bin der Meinung, dass es überall seelsorglichen Bedarf gibt, wenn man den Begriff „Seelsorge“ weit genug fasst – wenn man also nicht die Sprache Kanaans spricht und keinen pastoralen Habitus hat. Aber man muss die Leute erst mal auf den Geschmack bringen und zeigen: Auch die Kirche kann gute Beratungsangebote machen.

Vermutlich gab es zunächst viel Skepsis?

Kirche hat kaum noch einen Vertrauensvorschuss. Wer nichts mit Kirche zu tun hat, bringt den Glauben mit etwas völlig Irrationalem in Verbindung. Für ihn ist Kirche veraltet. Im Prinzip muss man im nichtkirchlichen Raum Vorurteile korrigieren. Denn Kirche ist anders.

In welchem Sinn anders?

Die Vorstellung, dass der Pfarrer mit Bibel und Gesangbuch in der Hand kommt, muss man aufweichen. Polizeiseelsorge ist Kirche am dritten Ort. Da gibt es Gläubige und weniger oder Andersgläubige an einem Ort.

Was befähigt Sie zur Seelsorge an diesem dritten Ort?

Ich habe in meinem Berufsleben 66 Wochen Weiterbildung gemacht. Damit fühlte ich gut platziert an einem Ort mit Menschen, die nicht in erster Linie wegen ihres Glaubens Seelsorge suchen. Diese Menschen wissen: Pfarrer und Pfarrerinnen haben Schweigepflicht, es gilt das Beichtgeheimnis, und sie haben vor Gericht ein Aussageverweigerungsrecht. Ich bin in der Polizei ein autonom arbeitender Mensch und muss an keinen Vorgesetzten berichten. Meine Arbeit findet also in einem absolut geschützten Raum statt.

Trotzdem die Frage: Wie haben Sie Vertrauen aufgebaut?

Die Polizei ist ein Dorf, und wenn man dann als Neuer durchs Dorf geht, wollen die Leute erst mal wissen: Wer ist das? Ich habe dann zunächst Klinken geputzt ...

Was ist denn großes Thema im „Dorf“?

Seit einigen Jahren findet ein Generationenumbruch statt. Die Babyboomer gehen in Rente und mit ihnen auch das unausgesprochene Selbstverständnis: Berufliches geht vor Privatleben. Die Jüngeren schütteln da oft den Kopf. Sie legen viel größeren Wert auf eine Work-Life-Balance. Das erzeugt Reibungswärme unter Kollegen. Es gibt diesen Satz „Das ist nicht mehr meine Polizei“. Der Satz ist doof, aber er besagt: Es ändert sich sehr viel, und ich finde das nicht gut. Das ist immer wieder ein Ausgangspunkt für Gespräch.

Das Selbstverständnis des Polizeibeamten wird vermutlich auch im Kontakt mit den Bürgern infrage gestellt.

Es gibt eine Irritation in der Polizei, weil eine schwindende Akzeptanz in der Bevölkerung spürbar wird. Das heißt: Im Kontakt mit den Bürgern gibt es zunehmend kritische Bemerkungen wie „Warum kontrollieren Sie mich eigentlich?“ Viele Menschen sind mit der Annahme groß geworden, sie selbst seien der Mittelpunkt ihres Lebens. Und dann kommt da einer und stört, weil er den Ausweis sehen will. Das ist für viele Jüngere irritierend, und sie reagieren mitunter aggressiv. Damit wird die Selbstverständlichkeit polizeilicher Arbeit infrage gestellt.

Gibt es eine gute Antwort für den Umgang mit der Irritation?

Ich habe es gar nicht so sehr mit Antworten. Es geht zunächst darum, dass sich ein Mensch mit seiner Irritation vorbehaltlos ernst genommen fühlt. Diese Erfahrung macht er in der Seelsorge. Dann kommt manchmal das Darunterliegende, das viel Ältere zur Sprache. Warum bin ich verunsicherbar? Das kann bei einem Menschen, der in einem Sicherheitsberuf arbeitet, natürlich das Selbstbild ins Wanken bringen. Dennoch: Ist der Nährboden, auf dem diese berufliche Verunsicherung gedeiht, ein wenig frei gelegt, kann ein Mensch häufig die Antwort für den Umgang mit seinen Gefühlen finden, die er nach meiner Überzeugung immer schon in sich trägt, sie bisher aber noch nicht kannte.

Dass sich Polizisten verletzlich zeigen dürfen, wird für manchen ungewohnt sein?

Die Verletzlichkeit in diesem Beruf ist auch etwas Problematisches, denn die Polizei muss sich eigentlich unverletzlich zeigen, weil sie die Staatsgewalt repräsentiert. Zugleich sind Polizistinnen und Polizisten aber Menschen, die natürlich eine Verletzbarkeit haben. In diesem Spannungsfeld müssen sie arbeiten und zurechtkommen.

Inwiefern hinterlässt dieses Spannungsfeld Spuren im Privatleben?

Ich erinnere mich an einen Polizeidirektor, dessen Haustür war dreifach gesichert. Alle Fenster waren in einem überdurchschnittlichen Maß abgeriegelt, weil der Mann im Beruf eine künstliche Häufung von Einbrüchen erlebt hat. Er hat darauf mit einem erhöhten Sicherheitsbedürfnis reagiert. Bei anderen Beamten müssen die Kinder manchmal früher als andere Gleichaltrige zu Hause sein. Manchmal trägt die Familie das mit, manchmal gibt es Konflikte.

Für Polizisten ist der Ausnahmezustand Alltag. Sie erleben Kriminalität, Gewalt, Tod. Wie hält man das aus?

Polizisten erleben das nach meiner Erfahrung nicht als Ausnahmezustand, sondern als Normalität, sonst könnten sie nicht arbeiten. Allerdings steht dieser beruflich bedingten künstlichen Häufung an ungewöhnlichen und belastenden Situationen nur die natürliche Menge an Verarbeitungsmöglichkeiten gegenüber. Ich bin immer wieder überrascht, wie gut Polizistinnen und Polizisten verdrängen können, um weiter arbeiten zu können. Das kann Segen und Fluch gleichermaßen sein.

Wann wird es zu viel? Merkt man das selbst?

Es gibt Symptome wie Schlaflosigkeit, Schweißausbrüche, Flashbacks, Konzentrationsschwäche und das Gefühl der Überforderung. Doch häufig wird die Sensibilität fehlgedeutet oder übergangen, die uns erste Warnsignale schickt.

Gehen Frauen damit anders um als Männer?

Frauen sind häufiger teilzeitbeschäftigt. Das bedeutet, der Druck ist weniger groß. Mein Eindruck ist auch, dass Frauen früher merken, wann sie an ihre Grenzen kommen. Sie sind sich selbst gegenüber achtsamer. Sie sind schneller bei ihren Gefühlen, weil sie sich das erlauben.

Was hilft Polizistinnen und Polizisten, wenn sie im Berufsalltag grausame Gewalterfahrungen machen?

Ich ermuntere sie zunächst, ihre eigene, zunächst subjektiv empfundene Überlastung anzuerkennen als etwas Normales. Überlastung auf dramatische Ereignisse ist eine gesunde Reaktion auf etwas Ungesundes, das ich erlebt habe. Wenn dieser Schritt gelingt, dann ist man schon sehr weit, weil man sich nicht als defizitär erlebt. Man kann außerdem schauen, was als Gegengewicht helfen würde.

Was könnte das sein?

Man kann zum Beispiel die Dienststelle bitten, vier Wochen Innendienst machen zu können. Dafür hat jeder Verständnis. Man kann auch schauen, ob das Privatleben genügend Gewicht hat. Gibt es da etwas, was man verstärken kann? Gibt es Hobbys, die man intensivieren kann? Man kann auch fragen, ob man das Gefühl der Überforderung aus anderen Zeiten im Leben kennt.

Warum stellen Sie diese Frage?

Weil es eine ganz Reihe von Menschen in der Polizei gibt, die diesen Beruf gewählt haben, weil sie Schweres in ihren Herkunftsfamilien erlebt haben. Unbewusst wollen manche am Beginn ihres Berufs die Welt ein wenig besser machen. Daran aber kann man nur scheitern. Weiß man um seine unbewussten Motive, kann man selbstbestimmter mit ihnen umgehen.

Es ist eine große Leistung, angesichts der Verrohung, der Polizisten fast täglich begegnen, „richtig“ zu handeln?

Es ist eine große Aufgabe für Polizisten und Polizistinnen, Menschen, die schlimme Taten begangen und andere auf grausame Weise für ihr ganzes Leben geschädigt haben, weiterhin als Menschen mit Würde zu betrachten. Ich bin immer wieder überrascht, wie vielen das gelingt. Das wird von der Gesellschaft leider kaum wahrgenommen. Keiner will so genau wissen, was die Polizei erlebt. Wenn es aber die rechtsstaatlich legitimierte Polizei in unserer Gesellschaft nicht gäbe, würden wir im Chaos versinken. Deshalb bräuchte sie mehr Wertschätzung und Anerkennung aus der Bevölkerung, ohne dass kritisches Verhalten einzelner Beamter beschönigt wird. Jeder sollte gelegentlich seinen Dank an die Polizei aussprechen. Denn sie ist zur Stelle, wenn man selbst in Not ist.

Zur Person
Reinhard Behnke, Jahrgang 1958, hat evangelische Theologie in Wuppertal und Tübingen studiert und dann zunächst 17 Jahre lang als Klinikpfarrer in der Kinderklinik St. Augustin gearbeitet. Nach einer Etappe an der Berufsschule in Hennef war er ab 2009 als Polizeiseelsorger im rheinland-pfälzischen Teil der evangelischen Kirche im Rheinland tätig. Zudem war er zwölf Jahre lang Lehrbeauftragter für polizeiliche Berufsethik an der rheinland-pfälzischen Hochschule der Polizei auf dem Hahn/Hunsrück. Nach der Flutkatastrophe an der Ahr bot er unter anderem mehrmals das Seminar „Auszeit“ an, wo diejenigen, die schreckliche Erlebnisse verarbeiten mussten, sich in der Gruppe austauschen konnten.

Behnke hat zwei erwachsene Töchter und lebt mit seiner Frau in Bonn. Für seinen neuen Lebensabschnitt als Rentner hat er sich vorgenommen, erst mal keinen Plan zu haben – „denn Pläne sind oft Übersprungshandlungen“, wie er schmunzelnd anmerkt. Vorstellen kann er sich, nach einer längeren Pause als Supervisor weiterzuarbeiten.

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