Station 1 beim Aktionstag auf dem Gelände des Bundeswehrzentralkrankenhauses: Die Zehntklässler des Eichendorff-Gymnasiums lernen die Ausstattung eines Rettungswagens kennen. Das BwZK will künftig viermal im Jahr Unfall-Präventionstage für junge Leute anbieten.
Von unserer Mitarbeiterin Annette Hoppen
Schocktherapie im Schockraum: Eigentlich dient letzterer der Erstversorgung schwerstverletzter Patienten, das Behandlungszimmer in der Notaufnahme des Koblenzer Bundeswehrzentralkrankenhauses (BwZK) ist vollgepackt mit medizinischem Hightech-Gerät, das Leben retten soll. Leben zu retten: Darum geht es auch heute. Doch die jungen „Patienten“, die Dr. Florian Hartenstein, Unfallchirurg am Lazarett, gerade im Schockraum „behandelt“, sind kerngesund. Damit sie das auch bleiben, hat die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie (DGU) bundesweit eine Aktionswoche initiiert, an der sich auch das BwZK beteiligt.
Ziel und Zweck: Junge Leute zwischen 16 und 24 Jahren sollen für die Gefahren und Folgen von riskantem Verhalten vor allem im Straßenverkehr sensibilisiert werden, indem sie hautnah erleben, wie ein Unfall binnen weniger Sekunden ihr ganzes Leben verändern, im schlimmsten Fall sogar auslöschen kann.
Es ist eine Art Schocktherapie, auf die sich am Dienstag Zehntklässler des Koblenzer Eichendorff-Gymnasiums einlassen. Einen Tag lang verbringen die Jugendlichen in der Unfallklinik. Der für viele sicherlich bewegendste Moment wartet auf der Intensivstation – am Patientenbett eines jungen Mannes, der nach seinem Unfall vielleicht nie wieder laufen können wird. Intubiert, im künstlichen Koma, an Maschinen angeschlossen, die pausenlos blinken und piepen, liegt er da. Matthew (16) wird später, als sich die Klasse zu einer Reflexionsrunde trifft, sagen: „Man hört und liest so viel. In der Zeitung stehen Berichte von Unfällen, von Schwerverletzten. Aber man realisiert eigentlich gar nicht , wie das ist. Das ist mir erst hier so richtig bewusst geworden.“ Sein Klassenkamerad Paul wird zu Protokoll geben: „Ich habe heute gelernt, welche gravierenden Auswirkungen ein Unfall auf das ganze Leben haben kann.“ Und Elena (16) wird offenbaren: „Wo man das hier alles live gesehen hat, da geht einem das alles viel näher. Ich werde mir auf jeden Fall künftig zwei Mal überlegen, zu wem ich ins Auto steige.“
Genau dieses Besinnen und in der Folge ein besonneneres Verhalten der Jugendlichen erhofft sich Florian Hartenstein. Die Altersgruppe der 16- bis 18-Jährigen ist die, die statistisch am zweithäufigsten in Verkehrsunfälle verwickelt ist, erklärt der Mediziner. Der Aktionstag im BwZK soll hier präventiv wirken. Dass solche Programme nötig sind, zeigen Zahlen des Statistischen Bundesamtes von 2014. 3368 Menschen starben im vergangenen Jahr auf deutschen Straßen, 389 000 wurden verletzt. Die Zahlen der DGU belegen: Für die Altersgruppe der 18- bis 24-Jährigen ist das Risiko, bei einem Unfall zu sterben, etwa doppelt so hoch wie bei der Gesamtbevölkerung.
Doch nicht nur der Tod ist schrecklich, auch die Folgen schwerster Verletzungen auf das Leben können belastend sein. Das erfahren die Koblenzer Gymnasiasten im BwZK am eigenen Leib, als die Mediziner ihnen zum Mittagessen Orthesen anlegen, Stützen und Bandagen für Beine und Arme, die Unfallopfer etwa nach Knochenbrüchen tragen müssen. Die Simulation der Handicaps zeigt Wirkung. „Krass, wie einen das einschränkt“, sagt einer der Jugendlichen. „Mit einer Hand will ich nicht immer essen müssen.“
Zuvor hatte sich auch die Polizei Koblenz an dem Aktionstag beteiligt. Bei der Zielgruppe „Junge Fahrer“ thematisiert Ralf Thomas, vom Sachbereich Zentrale Prävention, am Vormittag die Hauptunfallursachen bei Verkehrsunfällen in der Altersgruppe der Jugendlichen und jungen Erwachsenen: Geschwindigkeit, Alkohol sowie die Ablenkung am Steuer, etwa durch das Handy am Ohr. Dann durchlaufen die Jugendlichen alle Stationen, die auf einen Schwerstverletzten wartet: Rettungsdienst, Schockraum, Intensivstation, Normalstation und Physiotherapie, bevor sie am frühen Nachmittag – hoffentlich als „geheilt“ – entlassen werden.
Der Aktionstag am BwZK ist Teil des PARTY-Programms, das die DGU bundesweit an 13 Kliniken begleitet. Das Konzept mit dem Arbeitstitel „Prevent Alcohol and Risk Related Trauma in Youth“ stammt ursprünglich aus Kanada. DGU-Kooperationspartner der Initiative sind der Deutsche Verkehrssicherheitsrat und der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft. Das BwZK will die Aktionstage künftig viermal im Jahr durchführen.
Frontal in einen Lkw gekracht: Betroffener berichtet von dem schweren Weg zurück ins Leben
Philipp Blatt
„Ich war ein ganz normaler Junge“, sagt Philipp Blatt. Wenige Sekunden der Unachtsamkeit sollten das ändern. 20 Jahre ist Philipp Blatt alt, als er mit seinem Auto auf dem Heimweg von seinem Ausbildungsbetrieb auf der Hunsrückhöhenstraße auf die Gegenfahrbahn gerät. Frontal kracht er in einen Lkw. „Wahrscheinlich bin ich eingeschlafen. Meine Abschlussprüfung als Industriemechaniker stand kurz bevor. Ich habe viel gearbeitet, wenig geschlafen.“ 2,5 Stunden brauchen Feuerwehr und Notärzte, bis sie Philipp aus dem Autowrack geschnitten haben. Der Rettungshubschrauber kann nicht fliegen. Es hat geschneit. Mit dem Rettungswagen wird er ins BwZK gebracht, im Schockraum muss er reanimiert werden. Das war 2007. Heute steht der junge Mann vor Zehntklässlern des Koblenzer Eichendorff-Gymnasiums. Erzählt seine Geschichte. Zwei Wochen Koma. Schlimme Träume. Einen Monat Intensivstation. Als er aufwacht, kann er nicht sprechen, sich nicht bewegen. Panik. Auch der Erfahrungsbericht von Philipp Blatt gehört zum Präventionstag von BwZK und der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie, zu dem sich die Koblenzer Gymnasiasten angemeldet haben. Philipp Blatt berichtet von dem tiefen Loch, in das ihn der Unfall und die gesundheitlichen Folgen stürzten. „Ich war depressiv“, gibt er zu. Heute sagt er: „Es geht mir gut.“ Obgleich auch ein Hirnschrittmacher die Myoklonien, unter denen er durch den Hirnschaden infolge des Unfalls leidet, nicht beheben konnte. Wenn er etwa ins Straucheln kommt, dann fehlt der Reflex eines Ausfallschrittes. „Dann falle ich hin, stehe auf und gehe weiter“, berichtet der 27-Jährige weiter. Immer fiel ihm das Aufstehen, vor allem auf der psychischen Ebene, aber nicht leicht. Erst 2012, als er die Chance erhält, als Orthopädiemechaniker wieder zu arbeiten, geht es bergauf. Mehr als vier Stunden am Tag schafft er im Job aber nicht. Und das wird sich wohl auch nie wieder ändern. Der Lebensmut, den Philipp Blatt dennoch ausstrahlt, beeindruckt Klassenlehrerin Christine Kalt. Ihre Schülerin Paula (16) sagt: „Ich werde sicher künftig noch weniger das Risiko eingehen, das alles selbst erleben zu müssen.“ hoa