Von unserer Redakteurin Doris Schneider
„Wir würden das heute wieder genauso entscheiden“, sagen Nikoles Eltern. Organspende war nie ein Thema in der Familie, aber als klar ist, dass Nikole hirntot ist, stimmen die Eltern der Spende zu.
Das Wohnzimmer im gemütlichen Haus in Wassenach ist vorweihnachtlich geschmückt. Aber Renate und Niko Schmandin sind in Gedanken ganz woanders. Sie wandern zurück zum 13. Januar 2013. Da war das dunkelblonde quirlige Mädchen, das viele Freunde hatte und so gern Einrad fuhr, bastelte und malte, erst noch mit einer Freundin und deren Hunden unterwegs. Dann hat Nikole geduscht und schon den Schlafanzug angehabt. Als sie unten im Wohnzimmer ist, sagt sie plötzlich „Mama, ich spüre meine Beine nicht mehr.“
Unbeschwerte Kindheit verbracht
„Sie wurde ganz panisch“, sagt ihre Mutter. Der zwei Jahre ältere Bruder Daniel springt gleich auf und hält seine Schwester fest, der Vater kommt hinzu, die Mutter ruft den Notarzt. „Ich spüre meinen ganzen Körper nicht mehr“, sagt Nikole. Der Vater hält sie im Arm, sie weint. Dann wird sie ruhiger. Immer leiser. Immer weniger. „In dem Moment wusste ich, dass mein Kind stirbt“, sagt die Mutter.
Was die Schmandins nicht wussten: Nikole hat eine Art Bindegewebsschwäche im Gehirn. Die führt an diesem Sonntag im Januar dazu, dass es zu starken Hirnblutungen kommt. „Wir sagen heute, wir sind eigentlich froh, dass wir es nicht wussten“, sagt Niko Schmandin. Denn so konnte das Mädchen – sie ist das Nesthäkchen in einer Patchwork-Familie mit insgesamt sechs, zum größten Teil erwachsenen Kindern – eine fröhliche, vollkommen unbeschwerte Kindheit verbringen. Hätte man um ihre Krankheit gewusst, hätte man sie vermutlich zu sehr in Watte gepackt, sie hätte ihr Leben nicht so genießen können, sagen die Eltern.
Wie in Watte gepackt erleben sie selbst den Abend und die nächsten Tage. Der Notarzt kommt, Nikole wird mit dem Rettungswagen ins Koblenzer Stiftungsklinikum gebracht. Eine Notoperation bringt keinen Erfolg mehr. Nikoles Gehirn ist durch die Blutungen und die lange Zeit ohne Sauerstoff so geschädigt, dass es keine Hilfe mehr gibt. Die Ärzte sprechen von Hirntod. Und zum ersten Mal fällt auch das Wort Organspende. „Wir hatten darüber nie gesprochen“, sagt Renate Schmandin. Nicht mit den Kindern, auch nicht miteinander. Was soll man tun, was ist richtig?
Das muss jeder Mensch für sich entscheiden, sagt Dr. Andreas Molitor, Oberarzt im Stiftungsklinikum Mittelrhein. Für die Ärzte ist das Allerwichtigste: Dass jeder Mensch auch Jahre später mit seiner Entscheidung für oder gegen Organspende gut leben kann. Am einfachsten ist es, wenn jemand einen Organspendeausweis hat. Dann muss man nämlich nicht über den Willen des Verstorbenen spekulieren, sondern kennt ihn.
Bei Nikole ist das nicht der Fall. Und so überlegen die Eltern. Aber sie überlegen nicht lange: „Nikole war so hilfsbereit und freundlich“, sagt die Mutter. Außerdem bekommt die Familie über die Untersuchungen die Gewissheit, dass das Mädchen organisch gesund war – das ist ihnen sehr wichtig, vielleicht um zu wissen, dass sie nichts hätten verhindern können.
Und die Eltern denken in diesen Stunden am Bett ihrer Tochter, die zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon tot ist, aber aussieht, als schlafe sie nur, auch an andere: „Nikole kann nicht weiterleben. Aber durch die Organspende vielleicht ein anderes Kind, dessen Eltern jetzt genauso verzweifelt sind wie wir.“
Vater bei Untersuchungen dabei
Sie stimmen zu. Vielen Organen, aber nicht allen. „Die Augen nicht“, sagt die Mutter. Das konnte sie nicht. Die Untersuchungen laufen an: Zwei Ärzte müssen unabhängig voneinander in einem Abstand von 24 Stunden den Hirntod feststellen. Doch Vater Niko Schmandin interveniert noch einmal: Auf Internetseiten hat er schreckliche Dinge über diese Untersuchungen gelesen, hat gelesen, dass manche Patienten gar nicht hirntot sind und trotzdem für tot erklärt werden. Er telefoniert mit den Ärzten, will bei den Untersuchungen dabei sein.
„Das war gut für mich“, sagt er rückblickend. Gut zu sehen, dass wirklich keine unwillkürlichen Reflexe bei Nikole zu beobachten sind. Dass die Diagnose also richtig ist: Nikole ist tot. Und dann geht alles seinen Gang: Die Organe werden untersucht, die bestmöglichen Spender über die Datenbank von Eurotransplant gefunden. Die Chirurgen aus den Kliniken der Empfänger kommen nach Koblenz und entnehmen die Organe, die andere Leben retten können.
Fast zwei Jahre ist es her, dass Nikole gestorben ist. Für ihre Familie ist seitdem nichts mehr, wie es früher war. Jeder trauert anders, auch das ist schwer auszuhalten.
Dank entgegen genommen
Vor ein paar Wochen haben die Schmandins bei einer Fortbildung für Transplantationsbeauftragte über ihre Entscheidung gesprochen. Das hat alles noch mal ganz schrecklich nah an sie herangebracht. Aber es war auch gut, sagen die beiden jetzt. Denn bei diesem Kongress waren auch Organempfänger. Und ein Mann kam zu ihnen und hat geweint. „Ich kann meinen Spendern nicht danken“, hat er gesagt. „Deshalb danke ich Ihnen.“