1944 ist der Junge aus Lay neun Jahre alt. Einige Weihnachten im Krieg hat er schon gefeiert, mit der Mutter und der Großmutter. Der Vater ist im Krieg. Dadurch, dass die Großmutter eine Kuh und einen Garten hat, müssen sie keinen Hunger leiden. Zwei Jahre zuvor hat er eine Eisenbahn zu Weihnachten geschenkt bekommen, sein ganzer Stolz. Überhaupt finden die Kinder im Krieg in allem Irrsinn auch noch Zeit und Gelegenheit, zu spielen und zu toben. „Schlimme Spiele haben wir manchmal gespielt“, erinnert sich der 87-Jährige.
Bei einem Jungen im Dorf war in der Scheune ihre „Kommandozentrale“, die Jungs spielten mit hölzernen Handgranaten, erklärten sich im Spiel gegenseitig den Krieg. Unterricht haben die Kinder an diesem Weihnachten 1944 schon seit Monaten nicht mehr. NS-Propagandaminister Joseph Goebbels hält auch 1944 seine Weihnachtsansprache, fordert die Deutschen zum Durchhalten auf.
Wir hatten sogar einen Baum, ich habe keine Ahnung, wo meine Großmutter den her hatte. Geschenke gab es keine. Aber einen stillen Abend, ohne Bomben.
Josef Siebenborn über Weihnachten 1944
Davon bekommen Josef Siebenborn und seine Mutter nicht allzu viel mit. Vor einigen Wochen mussten sie zur Oma ziehen, weil die eigene Wohnung in der Layer Untermark durch Bomben unbewohnbar geworden ist. Die Siebenborns waren im Keller, hatten Glück: Die Bombe schlug keine 20 Meter weit entfernt ein. Schuttberge versperrten den Ausgang zum Keller, doch der Nachbar schaufelte ihn frei. „Alle Fensterscheiben waren zertrümmert, der Putz von der Decke gefallen“, erinnert sich Josef Siebenborn.
Schon seit Monaten gehen sie jeden Tag in den Luftschutzkeller, später in einen der Stollen im Silberbergwerk im Kondertal. Sie sitzen da und beten, während um sie herum das Dröhnen der Bomberverbände zu hören ist. Und jeden Tag sehen sie auch die Bomber über den Berg fliegen, gen London. Dass dort ebenso wie hier Mütter mit ihren Kindern in Kellern sitzen und zittern, darüber denkt ein Kind wenig nach. Und auch Weihnachten ist kaum ein Thema in diesen Tagen. „Die Gedanken kreisten ums Überleben und darüber, wie es den Männern und Söhnen gehen mag, die an der Front kämpfen mussten.“
Dann, an Heiligabend 1944, gibt es eine Pause im Bombardement. „Meine Großmutter sagte: ,Ich glaube, das Christkind war bei uns zu Hause“, erinnert sich Josef Siebenborn. „Ich dachte, das gibt es doch nicht, wo soll sie denn einen Baum herhaben?“ Bis heute weiß er es nicht, aber tatsächlich steht ein Bäumchen auf dem Tisch in der guten Stube. „Mit vier Kerzen, ich erinnere mich genau daran.“ Das Zimmer ist kalt, es gibt keinen Gebäckteller, Schokolade kannten die Kinder sowieso nicht. „Es gab auch keine Geschenke – aber wir haben ,Stille Nacht' gesungen, und es wurde auch eine stille Nacht, es gab keinen Alarm mehr.“ Mutter, Großmutter und der Neunjährige gehen bald zu Bett – alle sind ständig übermüdet wegen der vielen Nächte im Luftschutzkeller.
Beim nächsten Weihnachten, da ist der Vater wieder da, erinnert sich Siebenborn. Die letzten zwei Jahre war der in Russland und Estland in Gefangenschaft gewesen, dann in einem Kriegsgefangenenlager in Köln-Delbrück. Ein Mann aus Winningen, der aus dem Lager ausbüxte, berichtet der Mutter im Herbst 1945, dass ihr Mann noch lebt, erinnert sich Siebenborn. Mit der Mutter und einem Onkel geht es mit der Bahn nach Köln, eine abenteuerliche Fahrt. „Es war wie ein Wunder“, sagt Siebenborn: Die drei stehen vor dem Lager, als ein Gefangener über den Hof geht. Der Vater! „Ich habe ihn nicht erkannt, aber die Mutter. Und er hat ihr ein Zeichen gegeben.“
Am nächsten Tag gebe es die Möglichkeit, den Gefangenen zu besuchen, wird der Familie gesagt. „Wir haben in der zerbombten Stadt überall geklingelt, wo ein Licht brannte, und nach 15 Absagen hieß es: ,Kommt rein, ihr könnt hier übernachten.'“ Noch ein Wunder, findet Siebenborn.
Zehn Minuten dürfen sie den Vater am nächsten Mittag sehen, genügend Zeit, um einen Plan zu besprechen: Der Vater hat gehört, die Kriegsgefangenen würden nach England in ein Bergwerk gebracht. Also hat er beschlossen zu fliehen. „Er hat uns einen Tag genannt, wo er in Deutz am Bahnhof beim Kehrkommando eingesetzt sein würde.“ Ein Onkel packt einen Koffer mit Zivikleidung und ein Ausweisdokument ohne Foto in einen Koffer, und tatsächlich schafft er es, dem Vater beides auf der Toilette in Deutz zu übergeben. Der Vater zieht sich um – und kann tatsächlich fliehen. Probleme gibt es später noch einmal, weil er keine Entlassungspapiere hat. Aber dann ist er wieder zu Hause bei seiner Familie.
Nicht alle hatten dieses Glück. Auch in Siebenborns Familie sind Männer von der Front nicht heimgekommen. „Wenn so ein Brief kam, bin ich immer weg“, sagt der 87-Jährige. Doch langsam kehrt wieder Normalität ein. Noch immer gibt es bittere Armut, aber zumindest gehen die Kinder wieder zur Schule. Von Traumatisierung spricht keiner, es muss einfach weitergehen. Siebenborn ist froh darüber, geht gern zur Schule. „Wir hatten einen so engagierten jungen Lehrer, den habe ich sehr verehrt.“ Vielleicht liegt es auch an ihm, dass Siebenborn später selbst Lehrer und dann auch Schulleiter wird.
Weihnachten ist und bleibt für ihn ein besonderes Fest, weil er ein gläubiger Christ ist. Heute Abend wird er mit der Familie feiern. Wenn sie „Stille Nacht“ singen, dann werden seine Gedanken vermutlich zurückgehen an Weihnachten vor 78 Jahren. Und sicher auch an ein kleines mickriges Bäumchen mit vier Kerzen, das ihm damals wie ein kleines Wunder vorkam.