Sonntag, 22. März 1942: Der Frühling ist in Koblenz eingekehrt. In Lützel scheint die Sonne. Eine Lokomotive am Bahnhof dampft abfahrbereit. Neben dem Zug herrscht großes Gedränge. Bernhard Pauli ist neugierig. Er klettert auf eine halbhohe Mauer vor dem Bahnhof, um zu sehen, was da vor sich geht. Anwohner an der Mayener Straße schauen interessiert aus ihren Fenstern. Auf den Bahnsteigen sind Menschen in heller Aufregung. Pauli hört sie schreien. Sie werden in Waggons getrieben. Es sind Hunderte Juden.
Nach und nach schließen Anwohner ihre Fenster, ziehen die Vorhänge zu. Sie merken, dass hier etwas Schreckliches passiert. Irgendwann fährt der Zug ab. 338 Juden aus Koblenz und Umgebung sind mit an Bord. Sie fahren in den Tod.
Der Beginn des Holocausts
Vor genau 82 Jahren ist Bernhard Pauli Zeuge der ersten Deportation von Juden aus Koblenz in die Vernichtungslager im Osten geworden. Seine Erinnerungen an die Situation am Bahnhof schilderte der Lützeler später in einem Bericht. Mit dem Deportationszug „Da17“ aus Aachen kam der Holocaust, die systematische Massenvernichtung von Juden der Nazis, nach Koblenz. Jahrelange Schikanen und Demütigungen lagen da bereits hinter den jüdischen Männern, Frauen und Kindern. Die Nazi-Regierung hatte sie systematisch und immer weiter aus der Mitte der Gesellschaft verdrängt.
Nun fahren sie an jenem Sonntag im März “nach dem Osten". 131 Juden kommen direkt aus Koblenz, unter ihnen viele Familien. Zum Beispiel das Ehepaar Leo und Johanna Hermann mit ihrer kleinen Tochter Hannelore aus der Vorstadt. Die beiden Söhne Hans und Kurt waren Jahre zuvor ins Ausland geflüchtet. 97 weitere Juden kommen aus der Israelitischen Heil- und Pflegeanstalt Bendorf-Sayn. Die restlichen wohnten in den umliegenden Ortschaften. Ihre Heimat sehen sie aber nie mehr wieder.
Schon am Tag vor der Deportation herrscht Ausnahmezustand. Am Samstag müssen sich die Juden in der Schule in der Steinstraße im Rauental einfinden. Sie werden von der Gestapo registriert, kontrolliert, durchsucht. Die Schule ist abgesperrt und wird überwacht. Die letzte Nacht in Koblenz verbringen die Menschen auf Stroh in der Turnhalle der Schule. Am nächsten Tag werden sie zum Bahnhof getrieben. Familienweise laufen sie an der Mosel entlang, über die Balduinbrücke bis nach Lützel. Die Sonne scheint, als Augenzeuge Bernhard Pauli sie kommen sieht.
Drei Tage, nachdem die Waggons aus Lützel losgerollt sind, erreicht der Zug Izbica im besetzten Polen. Von dort werden die jüdischen Passagiere aus dem Rheinland in die Vernichtungslager nach Belzec oder Sobibor verschleppt und mit Motorabgasen ermordet. Bis zum Herbst 1943 töten die Nazis in Belzec zwischen 440.000 und 453.000 und in Sobibor etwa 180.000 Juden in den Vernichtungslagern.
Das Gepäck wird verscherbelt
Zurück blieb von den 338 Menschen aus Koblenz und Umgebung nur ihr Hab und Gut – soweit es die Nazis es ihnen nicht schon zuvor abgenommen hatten. Sie durften nur einen bis zu 50 Kilogramm schweren Koffer, Bettzeug, 100 Reichsmark und Verpflegung für drei Tage mitnehmen. Als sie am Bahnhof in Lützel in die Waggons gepfercht werden, mussten sie ihr Gepäck in den Waggon am Zugende einladen. Bevor der Zug losfuhr, koppelten SS-Männer den Waggon ab. Das Gepäck wurde in der Folge verscherbelt, zum Teil verkaufte man die Sachen sogar in den Altstadtkneipen.
Der ersten Deportation aus Koblenz am 22. März 1942 folgten weitere sechs. Der letzte Deportationszug verlässt am 18. Februar 1945 den Lützeler Bahnhof in Richtung Theresienstadt. Nur wenige Tage, bevor die Amerikaner in Koblenz einmarschieren. Insgesamt 194 Juden, die ihren letzten Wohnsitz in Koblenz hatten, wurden bei den sieben Deportationen verschleppt, und mit ihnen viele Hundert weitere aus der Umgebung. Nur ganz wenige überlebten.
Der Förderverein Mahnmal Koblenz hat einen Bericht zu den Judendeportationen aus Koblenz veröffentlicht. Der Verein stellt diesen kostenlos im Internet zur Verfügung.