50 Jahre ist es her, manche Erinnerungen sind zwar verblasst oder gar ganz verschwunden, doch an vieles erinnern sich die fünf Tänzer noch als wäre es gestern gewesen, so tief hat sich das einmalige Erlebnis in ihre Köpfe gebrannt. Lothar Kröber, Evelyn Ackermann, Dorothea und Kurt Kröber und Horst Willi und Gisela Knebel gehörten mit zu den Winninger Tänzern, die zum Auftakt der Fußball-WM 1974 nach Frankfurt eingeladen wurden. Mit einem eigens einstudierten Tanz durfte die Winninger Winzer Trachten- und Tanzgruppe, die 2023 ihr 100-jähriges Jubiläum feiern konnte, Deutschland unter all den anderen Nationen vertreten.“ Heute sind sie 68, 69, 71 oder auch 74 Jahre alt, damals entsprechend 18, 19, 21, 24 Jahre alt – dazwischen liegt ein halbes Leben.
1974 war er gerade mit dem Abitur fertig, sagt Lothar Kröber, gerade mal zwei Jahre in der Tanzgruppe, es sei ein Wunder gewesen, dass er 1974 überhaupt schon mitfahren durfte zur WM, sagt er heute scherzhaft. Auch Evelyn Ackermann war gerade einmal 18 Jahre alt, als sie bei der WM auftrat, Dorothea Kröber, damals 19 Jahre alt, tanzt auch heute noch in der Spätlesegruppe, weiter an der Seite von Ehemann Kurt. Der Tanz verbindet die beiden, immerhin haben sie sich in der Gruppe kennengelernt, genauso wie Horst Willi und Gisela Knebel. Die Paare wurden einander zugeteilt, weil es mit der Größe passte – wie sich herausstellte passte es bei manchen auch in anderen Punkten.
Getanzt wurde auf 5,50 Metern Durchmesser in einem Styroporball
Erinnerungen sind Fragmente, nicht linear, subjektiv, Schlaglichter im eigenen Leben – und wenn man die fünf nach ihren Erinnerungen fragt, dann sprudeln sie heraus: Die Stadionatmosphäre, die Menschenmassen, der Aufschrei, der durch diese ging, als sie als deutsche Gruppe anmoderiert wurden: „Für Deutschland, die Winninger Winzer Trachten- und Tanzgruppe“. Ein Gänsehautmoment, bis heute, heißt es von den Fünfen.
Auftritt wäre fast ins Wasser gefallen – sprichwörtlich
Auch ein genau durchgetakteter Moment, der viel Übung brauchte – nicht nur die heimische Probenzeit eingerechnet. Denn der Ablauf im Stadion musste genau passen, immerhin hatten alle Vertreter der verschiedenen Nationen nur eine begrenzte Zeitspanne für ihren Auftritt und auch nur einen begrenzten Raum – genauer gesagt 5,50 Meter Durchmesser für 16 Tanzende. Denn präsentiert wurden sie in riesigen Styroporbällen, die aufgeklappt wurden wie Blumen, erklärt die Gruppe.
Jede Schaugruppe saß in so einem Ball und wartete auf den großen Moment. Der fast ins Wasser gefallen wäre, denn ausgerechnet an dem Tag musste es regnen – und der Styroporball war nicht wasserdicht. Innen war der Kunststoffboden mit einer Folie beschichtet, eine aalglatte Angelegenheit, erinnern sich die Winninger. Zwischendurch verlangten die jungen Tänzer immer wieder nach Lappen, um etwas trocken zu wischen. Gerutscht sei sie trotzdem, erinnert sich Ackermann, konnte sich aber noch mal fangen.
Exotische Tänze und Fußballspiele
Die Menschenmassen habe man ausgeblendet, sagt Gisela Knebel, es sei die einzige Möglichkeit gewesen, nicht vor Aufregung zu sterben: „Ich habe mich nur aufs Tanzen konzentriert und mir immer wieder gesagt ,Lächeln, Gisela, immer lächeln'.“ Er sei etwas erleichtert gewesen, als der Tanz beendet war, gesteht Horst Willi Knebel. Besonders als die Hebefigur abgeschlossen war, der Höhepunkt des Tanzes, aber ein Moment großer Anspannung. Immerhin ist die Gruppe direkt als zweite Nation an der Reihe und „danach konnten wir die anderen Auftritte sehen“, sagt Knebel: Exotische Tänze in kurzen Baströckchen, gehobenes Ballett, Tänze aus Zaire, Jugoslawien, Brasilien, Ungarn. Und das Spiel, betont Kurt Kröber.
Fünf Minuten dauerte der Auftritt, davor standen Monate der Vorbereitung. Eines Tages habe es gehießen, ein Mann kommt und schaut, was sie so drauf haben, erinnert sich Horst Willi Knebel. Die Gruppe tanzte dem Mann vor, der machte sich Notizen und einige Zeit später hieß es, sie seien ausgewählt worden. Wer sie da auswählte war Arno Scheurer, ehemaliger Organisator von Großveranstaltungen wie etwa auch der Olympischen Spiele 1972 in München oder der Bundesgartenschau 1979 in Bonn, gewesen. Er hatte nach einer Gruppe gesucht, die mal keine bayerische Schuhplattlertruppe war. Allerdings wollte er ein Potpourri aus den besten Tanzschritten und Hebungen. Einen Tanz, den Ballettmeisterin Ruth Stützer erst choreografieren und über Monate mit den Tänzern einstudieren musste.
Zwei deutsche Tanzgruppen
Neben vielen schönen Erinnerungen, jubelnden Massen und ausgelassenen Feiern mit internationalen Tänzern, gibt es auch Momente, die nachdenklich gestimmt haben. „Am meisten in Erinnerung ist mir geblieben, dass es damals noch zwei deutsche Mannschaften gab“, sagt Gisela Knebel. Und somit auch zwei Tanzgruppen. Zu allen Nationen sei das Verhältnis wunderbar gewesen, erinnert sie sich, nur zu der Gruppe der DDR habe man keinen Zugang gefunden – wortwörtlich. Als der Bus der DDR hinter ihrem gehalten habe, wollte man zu den deutschen Kollegen gehen, aber man habe sie nicht durchgelassen, sagt Horst Willi Knebel. „Das hat mich damals unheimlich belastet“, erinnert sich Gisela.
Einen runden Geburtstag gibt es am Sonntag, 12. November, in Winningen zu feiern: Vor rund 200 geladenen Gästen in der August-Horch-Halle zelebriert die Moselgemeinde ihre Winzer-, Trachten- und Tanzgruppe.100 Jahre Winninger Tanzgruppe: Tanzen in guten wie in schlechten Zeiten
Wie die Zukunft der Tanzgruppe aussehen wird, kann derzeit niemand sagen. Wie alle Vereine leidet auch dieser unter Nachwuchsmangel. Junge Leute hätten heute ein ganz anderes Angebot an Hobbys, und selbst wenn sie als Kinder anfangen, springen viele in der Pubertät wieder ab. Die Tracht könnte ein negativer Faktor sein, überlegen die Tänzer. Aber sie gehöre eben dazu, sagt Ackermann. Kurt Kröber ist sicher, dass auch die Touren ins Ausland ein Faktor waren, der für den Verein sprach, aber auch das ist heute viel erreichbarer für Jugendliche geworden. Das Gesellige war das Schönste, sagt Horst Willi Kröber, nach einer Tanzstunde irgendwo einkehren, die Zeit dann zusammen genießen.
Übrigens: Für den Auftritt der Gruppe gab es sogar eine Entlohnung, „ein Taschengeld“, nennen es die Tänzer: 20 D-Mark für Verpflegung pro Tag und 50 D-Mark als Tanzgage vom Fußballbund. Aber, so sind sich alle einig: „Wir hätten auch ohne Lohn getanzt.“
Video-Tipp: Den Auftritt der Winninger-Tanzgruppe gibt es bei youtube zu sehen (ab 10:15 Min )