Die vier Nixensagen aus Brey wurden von einem Linguisten in Buchform aufbereitet, damit sie nicht wieder für Jahrhunderte im Strudel der Zeit abtauchen.
Es ist ein sonniger Tag, der Rhein bei Brey rauscht in seinem Bett vor sich hin, drei Männer stehen unweit seines Ufers und unterhalten sich. Ein friedliches Bild, das kaum Anlass zur Sorge geben würde. Zumindest heute nicht. Vor ein paar Hundert Jahren hätte diese Szene der Anfang eines Unglücks und später einer Sage werden können. Denn Brey, oder vielmehr der Rhein direkt vor der Gemeinde war ein gefährlicher Ort – zumindest in der mythischen Welt. Schuld waren Nixen, die Männer in ihren Bann und gleichzeitig in die Fluten des damals noch wilderen Flusses zogen. Vier Sagen sollen dies belegen. Vier Sagen, die bei den Breyern in Vergessenheit geraten waren, und die erst der Zufall wieder sprichwörtlich auftauchen ließ.
Englischer Rheinreisender schreibt Sagen auf
Die drei Männer, die heute an den begradigten Ufern des Wirtschaftsgewässers Rhein stehen sind Michael Born (70), Werner Müller (87) und Bernd Ulrich Biere (76). Müller und Born haben 2009 den Initiativkreis „Kultur im Dorf“ ins Leben gerufen, mehr als 40 Veranstaltungen konnten sie bisher auf die Beine stellen, darunter Lesungen, Konzerte und Theaterstücke. Und 2010 einen Abend, der sich mit der Sagenwelt der Breyer Nixen beschäftigte. Ein Schauspieler trug die vier überlieferten Geschichten vor, hauchte ihnen erstmals wieder Leben ein, nachdem sie über Jahrhunderte niemand mehr gehört hatte.
Dass sie überhaupt – zumindest in schriftlicher Form – erhalten bleiben konnten, ist der Verdienst eines englischen Rheinreisenden. John Snowe war in den 1830er-Jahren dem romantischen Trend gefolgt und hatte sich zu einer Reise den Rhein herunter aufgemacht. Viele Engländer seien damals den Fluss entlanggereist, sagt Michael Born. Mancher geriet über die vielen Burgen und Schlösser entlang der Ufer ins Schwärmen und Träumen.
Lange überlebten diese Geschichten rein mündlich, vom Erzählen und Wiedererzählen, bis jemand auf die Idee kam, sie in einer Fassung festzuhalten, zu verschriftlichen. Für viele Volkssagen übernahmen in Deutschland die Gebrüder Grimm diesen Part, für die Nixensagen aus Brey der Engländer Snowe – allerdings auf Englisch. Ob von den Breyern jemand wusste, dass Snowe die Geschichten aufgeschrieben hat, kann man heute schlecht nachvollziehen, ähnlich wie die Sagen selbst ist auch vieles rund um Snowe sprichwörtlich untergegangen.
Jedenfalls waren die Sagen nun in England, und sie blieben dort, bis sie Ende der 1970er-Jahre in einem Antiquariat in London wieder auftauchten. Ein Bekannter eines Breyer Bürgers findet das Originalbuch, schickt es zu seinem Freund nach Brey, doch der weiß damit nichts anzufangen. Er bringt das Buch zu einem ehemaligen Historiker, Peter Paul Eich, der es wiederum von einem seiner Bekannten übersetzen lässt.
Eich veröffentlicht die vier Sagen dann 1984 im Heimatkalender des Kreises MYK – und da findet sie Werner Müller. Die Sagen lassen ihn nicht mehr los, erinnert er sich. Lange schlägt er sich mit dem Gedanken, sie wieder unters Volk zu bringen. Nur wie? 2010 – der Initiativkreis ist gerade mal ein Jahr alt – ist es dann soweit. Als eine der ersten Veranstaltungen trägt Hermann Burg vom Theater Koblenz die Sagen vor, sodass man sie nachvollziehen kann.
Biere kann sich noch genau an seine Reaktion erinnern, als er sie das erste Mal las: So einen schlechten Text hatte er schon lange nicht mehr gelesen. Schlecht übersetzt, aber mit viel Potenzial. Mit etwas mehr Gespür für den Text, ein paar Ausschmückungen hier und da, könnte es was werden. Er nimmt sich der Sagen an und bringt sie im eigenen Mykum-Verlag in einem kleinen Buch 2019 heraus.
Von vertuschtem Mord bis zum versteckten Selbstmord
Die vier Sagen sind zwar alle sehr unterschiedlich, doch haben sie zwei Dinge gemein: Die Nixen stehen nie im Mittelpunkt der Geschichte, sondern sind immer Mittel zum Zweck, und es stirbt immer jemand. Manchmal unter Umständen, die heutzutage direkt hellhörig machen. Beispiel: Zwei Jägerburschen setzen mit dem Boot über den Rhein. Eine Nixe taucht auf, einer der beiden Burschen möchte sie schießen, sein Jägerkamerad meint noch, dass das Unglück bringt. Doch der Bursche hört nicht, er schießt, die Nixe taucht ab und zieht den Jägersmann mit in die Fluten. Sein Kumpel muss allein nach Hause fahren, nur eine Blutspur im Wasser erinnert noch an seinen Kameraden.
Es braucht nicht viel Kombinationsgabe, um sich zusammenzureimen, was auf dem Boot wohl passiert ist. Ein vertuschter Mord könnte es gewesen sein, gibt Biere zu, in den meisten anderen Sagen geht es schlicht ums Ertrinken. So etwa in der Sage von den drei Tanzburschen, die auf der Kirmes drei Schönheiten kennenlernen und ihnen nach Hause folgen wollen. Dort, wo sie hingehen, könne man ihnen nicht folgen, sagen die Mädchen, doch die Burschen lassen sich nicht abschütteln. Als die Nixen in ihr Wasserschloss abtauchen, rufen sie die hartnäckigen, jungen Männer doch zu sich, die tauchen mit ab – und werden nie wieder gesehen. Badeunfall, denkt man heute, wahrscheinlich auf übertriebenen Alkoholkonsum zurückzuführen.
Ein bisschen Wahrheit ist immer dabei, sagt Müller, immerhin sind früher wesentlich mehr Leute ertrunken. Zumindest in Brey: So waren die anderen Dörfer entlang des Rheins meist Fischerdörfer, Brey nicht, hier wurden Obst und Gemüse angebaut, wahrscheinlich konnten nur wenige im Oberdorf überhaupt schwimmen, sagen die Drei.
Doch auch für andere Verbrechen mussten die Nixen den schönen Kopf hinhalten: Ein reicher Weinbauer trauerte um seinen Sohn, den eine Nixe in den Rhein gelockt hat. Er vernachlässigt Wein, Wingert und Weinbaubetrieb, so sehr grämt ihn der Tod des Kindes. Zum Jahrestag seines Todes taucht der Sohn am Fluss wieder auf, er erklärt dem trauernden Vater am Ufer: Es ist unter Wasser bei den Nixen, und er kann nur von dieser „Haft“ erlöst werden, wenn jemand seinen Platz im Wasser einnimmt. Der Vater geht ins Wasser, um den Jungen zu retten. Ob der Sohn erlöst wird, zumindest was sein Seelenheil anbelangt, wird nicht berichtet.
Für Born ist der tragische Fall klar: Der Vater geht ins Wasser, weil er den Tod des Kindes nicht verwinden kann. Doch Selbstmord ist eine Todsünde. Selbstmörder durften nicht auf katholischen Friedhöfen beerdigt werden, mit dem Seelenfrieden war es sowieso dahin. Vielleicht hatte man deswegen die Nixen darum gesponnen, vermutet Born, damit jemand Schuld hat.
Das sei das Typische an Sagen, sagt Biere, ein gewisser Wahrheitsgehalt ist immer darin, und anders als in Märchen, könne man Sagen immer genau verorten, auch teils an realen, historischen Personen. Wie etwa in der vierten Sage, in der der Abt von Sponheim eine Rolle spielte: Eine Hochzeit ist geplatzt, die Braut aus Brey stand am Altar, der Bräutigam aus Rhens erscheint nicht. Er wird gesucht, doch er bleibt verschwunden. In ihrer Verzweiflung wendet sich die Braut an den Abt von Sponheim, bekannt unter dem Namen Johannes Trithemius, 1462 in Trittenheim an der Mosel geboren.
Der sei ein bisschen esoterisch gewesen, sagt Biere, gleichzeitig ein Benediktinerpater, der für damalige Verhältnisse hochwissenschaftliche Bücher geschrieben hat.
Mit einer ähnlichen Mischung ging der Abt auch an die Causa „verschollener Bräutigam“ ran. Er streute ein Pulver ins Feuer, lässt die Braut in eine Glaskugel schauen und die sieht darin ihren Liebsten am Ufer des Rheins in Brey entlangspazieren. Der starrt ins Wasser, legt seine Kleidung ab, stürzt sich in die Wellen und verschwindet. Wieder die Nixen? Für die Braut in der Sage ja. Für Müller eher nicht. Die Beziehung muss schon vorher nicht das Gelbe vom Ei für den Bräutigam gewesen sein, schätzt er.
Der Abt schaut selbst noch einmal nach und sieht den Bräutigam tief unten im Fluss auf einer Wiese, den Kopf auf den Schoß einer schönen Frau – schöner als die Braut – gebettet. Er gibt der Braut ein weiteres Pulver, mit dem sie die verquollene Leiche ihres Liebsten wieder aus dem Nixenreich zurückholen kann.
„Schwimm net su weit raus, die Unnermodder hölt dich“
Sagen seien Erklärungsversuche, sagt Biere. Warum ertrinken drei junge Männer im Rhein? Warum geht ein wohlhabender Winzer ins Wasser? Warum lässt ein Bräutigam seine Braut am Altar sitzen? Was passierte bei der Überfahrt von zwei Jägern? Die Sagen sind Warnungen und gleichzeitig Versuche, eine Gemeinschaft zusammenzuhalten, zu signalisieren, dass niemand etwas für die Unglücke konnte. Auch wenn die Leute heute viel besser schwimmen können und mit Schwimmbädern Alternativen zum gefährlichen Fluss bestehen, mancher kann und konnte den kühlen Verlockungen an einem heißen Tag doch nicht widerstehen.
Müller erinnert sich, als er ein Kind war, kannte niemand mehr die Nixensagen. Wohl aber eine andere Gestalt: „Es hieß von meiner Mutter immer: ,Schwimm net su weit raus, die Unnermodder hölt dich‘ (Schwimm nicht so weit raus, die Untermutter holt dich).“ Und tatsächlich: Am Ufer von Brey gibt es Strudel und Strömungen, die schon für erfahrene Schwimmer gefährlich sein konnten, weiß er.
Egal ob Untermutter oder Nixen: Angesiedelt haben sich die Gestalten und Mythen einzig in Brey, nicht in den anderen Rheingemeinden. Zumindest sind laut den Dreien noch keine anderen Sagen aufgetaucht.
Das Buch „Die Nixensagen aus Brey – neu erzählt von Ulli Biere und Werner Müller“ gibt's bei der Gemeindeverwaltung Brey oder kann in jeder Buchhandlung oder im Internet bestellt werden.