Der Geschichten, muss man eigentlich sagen. Denn da ist die Geschichte von Arno Becker, der in Polch wohnt und früher einmal Lehrer auf der Querschnittstation im Evangelischen Stift war. Später dann hat er Geschichten, die er für seine Enkelkinder ausgedacht hatte, aufgeschrieben. Und dann hat ihn eine Frau gefragt, ob er auch ihre Geschichte aufschreiben könnte, die Geschichte einer 16-Jährigen, die nach Deutschland kommt, um einen Cousin zu heiraten, den sie nicht kannte.
„Ich war noch nie verliebt“, hat sie irgendwann zu Becker gesagt. „Nur verheiratet.“ Beckers Neugier war geweckt: „Es gibt so viele Parallelwelten“, sagt er im Gespräch mit der RZ im Mampf. „Mich hat das immer schon interessiert.“ Dann wollte er ein Buch über jemanden aus der Parallelwelt „Wohnungslosigkeit“ schreiben und meldete sich im Mampf, bat darum, dass ein Aushang gemacht wird.
Vom Trinken gehen die Sorgen ja nicht weg.
Christoph Schrat.
An diesem Punkt kommt Christoph Schrat mit seiner Geschichte dazu. Schon seit etwa vier Jahren ist er in Koblenz, ist sozusagen auf der Durchreise hängen geblieben. Er schläft in der Nähe des Haupteingangs zum Friedhof. Morgens bringen ihm Mitarbeiter oft ein Croissant, abends Anwohner aus der Nähe schon einmal eine warme Suppe. Oft isst und ist er im Mampf.
Irgendwann fragt Sozialarbeiter Jürgen Michel ihn, ob er Lust auf ein „Jobangebot“ hat: Arno Becker sucht jemanden, der bei seinem Buchprojekt mitarbeiten möchte, der das Bedürfnis hat, aus seinem Leben zu erzählen und zuverlässig ist. Umsonst muss derjenige es nicht machen: Becker bietet den Mindestlohn von 12 Euro für die Gespräche und die Hälfte des Erlöses aus dem Buchverkauf. Schrat hat Interesse.
Und so kommen die beiden Männer und die beiden Geschichten zusammen. Dienstags um 11 Uhr sitzen sie im Räumchen, Becker trinkt Tee, Schrat Kaffee. Und er erzählt. Von seiner Kindheit mit einem Vater, der zu viel trank und die Mutter und den Sohn nicht nur schlug, sondern auch psychisch fertigmachte.
Gelernt hat er von ihm vor allem eins: „Andere Väter zeigen ihren Kindern, wie man auf Bäume klettert, wie man anderen mit Respekt begegnet, sie zeigen, wie Zuneigung geht, wie man konstruktiv mit Problemen umgeht. Er zeigte mir, dass man mit Alkohol (vermeintlich) Probleme lösen kann“, heißt es in dem Buch.
Schrat hat vier Kinder
Es ist ein Buch mit zwei Autoren, beschreibt Arno Becker: Es ist Schrats Geschichte in Beckers Worten. „Aber er hat mir immer vorgelesen, was er vom letzten Treffen aufgeschrieben hat, hat mich gefragt, ob das alles in meinem Sinn ist“, sagt Christoph Schrat. Vieles hat er aus seinem Leben erzählt: Wie es dazu kam, dass er heroinabhängig wurde, wie er immer wieder Jobs angefangen und verloren hat. Oft hat er sie selbst hingeschmissen.
Mit Beziehungen läuft es meist nicht viel besser. Er schlittert oft von einer in die nächste, war auch verheiratet, hat mit zwei Frauen vier Kinder. Stolz ist er darauf nicht, wie das alles gelaufen ist: Im Buch erzählt er, wie er mit der damals dreijährigen Tochter „König der Löwen“ angeschaut hat und sie ihn dann – als der kleine Löwe seinen sterbenden Vater fragt, ob er ihn verlassen müsse – fragt: „Aber du lässt mich nicht allein, Papa?“ „Nein!“, hat Schrat damals gesagt.
Medizinische Hilfe ohne Versicherung
Drei Jahre später ist er weg, zu einer anderen Frau. Beziehungen sind ein Ventil, um einen Ausweg zu finden aus seinen Problemen. Ein zweites: Alkohol und Drogen. Und ein drittes: Suizidversuche. Einer davon bringt ihn in eine Therapie, in der er entgiftet.
Viel leichter wird es trotzdem nicht: Schrat ist zu diesem Zeitpunkt ohne Wohnung, lebt auf der Straße. Auch in Koblenz, wo er hängen bleibt, als er eigentlich aus dem Ruhrgebiet nach Portugal möchte, weil es dort nicht so kalt ist. Unterwegs braucht er aber medizinische Hilfe, die bekommt er auch ohne Versicherung in Koblenz. Und so bleibt er.
Gesellschaft verurteilt Obdachlose
Sein Tag strukturiert sich, er „macht Sitzungen“, schnorrt Geld für Tabak und anderes. Sein Hund Lillifee ist immer dabei. Die beiden passen aufeinander auf: Nachts hat sie einmal eine Gruppe junger Leute verscheucht, die ihn angreifen wollten. Und tagsüber schläft sie in der Fußgängerzone, und er passt auf sie auf.
Wie die Gesellschaft ihn sieht, bekommt er hier nahezu täglich gesagt: „Die wollen alle nicht arbeiten“, „Die nehmen alle Drogen und saufen“ – Sätze wie diese hört er ständig. Und Sätze wie diese sind es auch, die Arno Becker wütend machen, die ihn dazu bringen, genau hinschauen zu wollen bei dieser Parallelwelt.
Schrat hat eine Wohnung gefunden
Jetzt, wo ihre gemeinsame Arbeitszeit vorbei, das Buch geschrieben und erschienen ist, haben die beiden Männer das förmliche „Sie“ aufgegeben und duzen sich. Sie sind im Kontakt. Auch wegen des Buches: Schrat bekommt die Hälfte des Erlöses, viel ist es noch nicht, aber ein bisschen.
Der 54-Jährige hat im Übrigen eine Wohnung gefunden, bei einer Vermieterin, die ein Herz für Menschen wie ihn hat. Da hat er eine Tür, die er für andere aufmachen kann, wenn er will, die er aber auch schließen kann.
Seit einiger Zeit kommt er ohne Alkohol aus
Und er hat seit Kurzem eine Arbeitsgelegenheit im DB-Museum, restauriert alte Loks und Züge, das macht ihm Spaß und strukturiert den Tag. Und schon seit einiger Zeit kommt er ohne Alkohol aus: „Vom Trinken gehen die Sorgen ja nicht weg. Sie sind nur ein paar Stunden unsichtbar, um danach umso klarer hervorzutreten“, so schreiben Schrat und Becker es im Buch.
Christoph Schrat ist übrigens nicht sein richtiger Name. Aus Rücksicht auf seine Ex-Frau und seine Kinder, zu denen er ab und zu Kontakt hat, hat er ihn geändert.