Therapie hinter Gittern
Wie funktioniert der Maßregelvollzug im Nette-Gut?
Die Klinik Nettegut in Weißenthurm ist die größte Einrichtung für forensische Psychiatrie in Rheinland-Pfalz. Dort werden psychisch oder suchtkranke Straftäter gesichert und therapiert.
Landeskrankenhaus/Markus Wakulat. Landeskrankenhaus / Markus Wakulat

Frank Goldberg, der ärztliche Direktor der forensischen Fachklinik, erklärt, wer dort behandelt wird, wie dort gelebt wird und was die Forensik von der normalen Psychiatrie unterscheidet. 

Eine normale Psychiatrie sei nichts anderes als eine Fachklinik, erklärt Frank Goldbeck. Die Patienten gehen freiwillig dorthin, um sich behandeln zu lassen, so der ärztliche Direktor der Klinik Nettegut. Auch die Klinik Nettegut ist ein psychiatrisches Krankenhaus, aber ein forensisches. „Unser Auftrag ist es, Menschen gesund zu machen, aber auch die krankheitsbedingte Gefährlichkeit zu reduzieren“, erklärt Goldbeck, die Aufgabe der Einrichtung. Die Menschen, die dort eingewiesen werden, haben eine Straftat aufgrund einer schweren seelischen oder Suchterkrankung begangen. Sie sind nicht oder nur vermindert schuldfähig oder nicht in der Lage, das Unrecht der Tat zu erkennen.

In der Einrichtung sollen sie einerseits therapeutisch behandelt, andererseits soll die Allgemeinheit vor ihnen geschützt werden, bis sie resozialisiert sind. „Die Menschen können nicht weg“, sagt Goldbeck. Dafür wird mit Zäunen und Mauern gesorgt. Das unterscheide sie auch von Patienten in der Akutpsychiatrie, die vorübergehend auf richterlichen Beschluss eingewiesen werden, weil sie in einer psychischen Ausnahmesituation sind, in der sie akut ihre Gesundheit oder die anderer gefährden. Ist diese überwunden, können sie die Klinik verlassen.

Frank Goldbeck ist der ärztliche Direktor der Nette-Gut Klinik für forensische Psychiatrie.
Landeskrankenhaus / Alexander Schaerer

Von den Patienten der Nettegut-Klinik geht dagegen nicht unbedingt akut Gefahr aus, erklärt der Arzt. Sie haben ein allgemeines Gefährdungspotenzial, das in bestimmten Situationen besteht. Etwa im Zusammenhang mit Alkohol oder Drogen oder bei Kontakt mit bestimmten Personen. Um diese Probleme zu behandeln, setzt man Medikamente, Psychotherapie und Gruppentherapie ein. Auch Tiere, Sport, Musik und Kunst können bei der Therapie zum Einsatz kommen. Ein bedeutender Part für die Resozialisierung ist Ergotherapie, vor allem in Form von Arbeitstherapie. Die Tagesabläufe seien so unterschiedlich wie die Menschen: „Es reicht von dem, der vier Tage die Woche als Freigänger auf dem ersten Arbeitsmarkt arbeitet, bis zu jenen, bei denen erst Strukturen aufgebaut werden müssen. Da ist es schon eine super Leistung, wenn man sie an den Frühstückstisch bekommt.“

Mit Fortschritten werden die Auflagen für die Patienten in einem neunstufigen System gelockert. „Wir dürfen nur so lange einschränken, wie es erforderlich ist.“ Die Lockerungen haben auch therapeutische Funktionen, indem sie in lebensnahen Situationen soziales Verhalten trainieren, Selbstständigkeit fördern und die Patienten zur Kooperation motivieren.

„Es ist noch einmal ein großer Sprung, wenn es vor den Zaun geht.“
Frank Goldbeck, ärztlicher Direktor der Klinik Nettegut

Die Stufen 1 bis 3 erlauben den Patienten Bewegungsfreiheit auf dem eingezäunten Klinik-Gelände. Geht von einem Patienten akut Gefahr aus, bleibt er auf einer geschlossenen Station. Etwa 95 Prozent der Patienten könnten sich frei auf dem Gelände bewegen, meint Goldbeck. Ab Stufe 4 können die Patienten die Einrichtung in Begleitung von Personal, bei höheren Stufen auch allein verlassen. „Es ist noch einmal ein großer Sprung, wenn es vor den Zaun geht“, so Goldbeck. Die bloße Teilnahme an Therapien reiche dafür nicht aus. Die Patienten müssen Einsicht und Fortschritte zeigen und in ihrem Verhalten einschätzbar sein.

Auch um die Entwicklung der Patienten zu verfolgen, seien die Lockerungen wichtig. Alle Vorbereitungen sind nur theoretisch. Bei Ausgängen werden die Patienten mit lebensnahen Situationen konfrontiert. „Es reicht nicht, einen Risikoplan zu haben, man muss ihn auch umsetzen“, so Goldbeck. Funktioniert etwas nicht, können die Lockerungen jederzeit wieder zurückgenommen werden. Er betont, dass es dabei nicht darum geht, ob die Patienten rückfällig werden, sondern etwa, ob sie Absprachen einhalten.

Die neunte und letzte Stufe vor der Entlassung ist die Beurlaubung. Die Menschen werden von der Klinik betreut, leben aber in eigenen Wohnungen, bei Angehörigen oder Wohnheimen außerhalb des Geländes. „Das würden wir nie beschließen, wenn wir nicht davon ausgehen, dass es draußen nicht gut geht. Man kennt die Menschen, Jahre und Jahrzehnte“ erklärt Goldbeck. Das Pflegepersonal, Therapeuten, Ärzte, Oberärzte Chefärzte und auch er selbst sowie externe Gutachter seien an der Bewertung beteiligt und sind zu dem Schluss gekommen, dass bei dem Patienten keine krankheitsbedingte Gefährlichkeit mehr besteht.

Wie lange der Prozess dauert, variiert. Bei einer Einweisung für einen Entzug ist die Dauer des Maßregelvollzugs auf zwei Jahre begrenzt, kann aber bei Bedarf zusätzliche Haftstrafen ersetzen und so verlängert werden. Im Schnitt seien es anderthalb Jahre bis zur Beurlaubung. Bei psychischen Krankheiten seien es im Schnitt achteinhalb Jahre vom ersten Tag bis zur Beurlaubung und zehn Jahre bis zur endgültigen Entlassung. In manchen Fällen passiert es nie. Denn der Maßregelvollzug hat bei psychischen Erkrankungen keine Höchstdauer. „Wir entlassen, nur, wenn es Therapiefortschritte gibt“, sagt Goldbeck. Und auch werden die Patienten durch verschiedene Stellen weiter unterstützt und kontrolliert. Schon bei ersten Anzeichen der Verschlechterung könne man eingreifen, bevor es zum Rückfall kommen kann.

Lockerungen im Nette-Gut

Die Klinik Nette-Gut verwendet ein Lockerungskonzept mit neun Förderstufen (Stufe 1 bis 3) beziehungsweise Vollzugslockerungsstufen (Stufe 4 bis 9), das sich an den Therapiefortschritten und der Gefährlichkeit orientiert.

  1. Geländeausführung in Begleitung von Klinikpersonal
  2. Ausgang auf Gelände mit Mitpatienten oder Besuch
  3. Einzelausgang auf dem Gelände
  4. Ausführung außerhalb des Klinikgeländes mit Personal
  5. Ausgang in Begleitung von vertrauensvollen Mitpatienten oder Angehörigen
  6. sachbezogener Einzelausgang ohne Begleitung, etwa für Einkäufe oder Arzttermine
  7. Urlaub mit einzelnen Übernachtungen, zum Beispiel bei Angehörigen oder zur Vorbereitung einer Verlegung in ein Wohnheim
  8. erweiterter Einzelausgang/Freigang, um etwa einer regelmäßigen Beschäftigung außerhalb des Maßregelvollzugs nachzugehen
  9. Beurlaubung: Aufenthalt in eigener Wohnung, bei Angehörigen oder in externen Einrichtungen unter weiterer Betreuung der Klinik

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