Experten rechnen mit verzögerter Nachfrage - Probleme bei Finanzierung von Dolmetschern
Ukrainische Flüchtlinge in der Region: Psychologische Hilfe nach dem Grauen des Krieges
Markus Göpfert (Mitte) und Inga Machleit (4. von links) vor dem Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge der Caritas in Mayen. Göpfert geht davon aus, dass viele Flüchtlinge aus der Ukraine psychologisch stark belastet sind – und ein Therapiebedarf entstehen wird.
Andreas Walz

Viele Flüchtlinge aus der Ukraine machen im Krieg und auf der Flucht traumatische Erfahrungen. Dort wo sie ankommen, ist deshalb seelische Unterstützung gefragt. Aber können die Psychotherapeuten in der Region die zusätzliche Nachfrage überhaupt stemmen?

Lesezeit 4 Minuten

Fragt man Psychotherapeuten in der Region, wie sich die Fluchtwelle auf ihre Arbeit auswirkt, so lautet das Wort der Stunde: „zeitversetzt“. Denn bislang ist die Nachfrage nach therapeutischer Behandlung für Flüchtlinge gering – noch.

So auch bei der Initiative „Gesundheitslotse“ des Johanniter-Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie Neuwied, wo Geflüchteten psychologische Hilfe vermittelt wird und die eine Tagesklinik auf dem Gelände des Kemperhofs betreibt. „Wir haben in Neuwied und Koblenz bisher nur sehr vereinzelt Anfragen erhalten“, sagt Chefärztin Brigitte Pollitt.

Auch der Koblenzer Kinder- und Jugendarzt Martin Schwenger sagt, dass noch keine Flüchtlinge aus der Ukraine mit schweren Traumata in seine Gemeinschaftspraxis gekommen sind. „Ich befürchte allerdings, das wird noch kommen“, sagt Schwenger.

Markus Göpfert, Fachdienstleiter für Migration im Psychosozialen Zentrum für Flüchtlinge (PSZ) des Caritasverbands Rhein-Mosel-Ahr mit Anlaufstellen in Mayen, Andernach und Ahrweiler sieht das ähnlich. „Studien zeigen, dass 25 bis 50 Prozent der geflüchteten Menschen, die insgesamt nach Deutschland kommen, psychisch stark belastet sind und traumatische Erlebnisse hatten“, sagt er.

Depression und Belastungsstörung

Dies führe nicht bei jedem zu einer Traumafolgestörung, sagt Göpfert, ein Therapiebedarf werde aber sicherlich entstehen. Laut Bundespsychotherapeutenkammer (Stand 2015) sind bei Geflüchteten in Deutschland Depressionen sechsmal und Posttraumatische Belastungsstörungen 20-Mal häufiger als bei der übrigen Bevölkerung.

Letztere, sagt Brigitte Pollitt, trete meist erst nach vier bis sechs Monaten auf. „Es ist also sehr stark anzunehmen, dass die Nachfrage für Psychotherapie steigt“, sagt Ulrich Bestle vom Vorstand der Landespsychotherapeutenkammer RLP.

Doch gibt es in der Region überhaupt genügend Therapeuten, um die steigende Nachfrage zu bewältigen? „Dieser Bedarf ist mit den psychotherapeutischen Möglichkeiten, die hier vor Ort sind, erst einmal natürlich nicht abgedeckt“, sagt Brigitte Pollitt. Das Angebot reiche schon jetzt nicht aus.

Das bestätigt Ulrich Bestle von der Kammer: „Es gibt generell zu wenig Psychotherapieplätze, Corona hat die Lage noch verschärft.“ Und Markus Göpfert vom PSZ sagt: „Die Ukrainer treffen auf ein vorbelastetes System in Deutschland. Das ist die Versorgungslücke, die bereits seit Jahrzehnten besteht.“

Diese Defizite im kassenärztlichen System, sagt Göpfert, versucht man mit den Psychosozialen Zentren aufzufangen. Dort können Patienten kostenfrei behandelt werden, da die Caritas und andere Träger die Kosten übernehmen. „Aber auch wir haben Wartezeiten von bis zu drei Monaten“, sagt er.

Und weshalb erhöht man die Anzahl der Therapeuten nicht? Das liegt vor allem am Zulassungssystem, das – stark vereinfacht – so funktioniert: Auf nationaler Ebene legt der Gemeinsame Bundesausschuss, dem Vertreter des Spitzenverbands der gesetzlichen Krankenkassen, der Deutschen Krankenhausgesellschaft, der Kassen(zahn-)ärztlichen Bundesvereinigung sowie unabhängige Mitglieder angehören, die sogenannte Verhältniszahl fest. Diese gibt vor, wie viele Einwohner ein Therapeut zu versorgen hat.

Dieser Soll-Wert wird der tatsächlichen Versorgungslage in den Regionen gegenübergestellt. Dafür wird zunächst die Versorgungssituation in einem Bedarfsplan festgehalten. Ein Ausschuss vergleicht die Ergebnisse dann mit dem Soll-Wert und stellt fest, in welchen Gebieten eine Unter- oder Überversorgung besteht. Daraus werden Maßnahmen abgeleitet, wie etwa die Sperrung für Neuzulassungen von Therapeuten.

Dieses Planungssystem steht in der Kritik. Die Kassenärztliche Vereinigung RLP schreibt auf Anfrage: „Die entwickelten Verhältniszahlen für die Arztgruppe der Psychotherapeuten geben keineswegs den Versorgungsbedarf wieder, sondern orientieren sich an dem Versorgungsniveau von 1999“.

Die Bedarfsplanung sei nicht zeitgemäß und zu eng gefasst, um auf Engpässe zu reagieren. Die Kassenärztliche Vereinigung RLP fordert deshalb, die Bedarfsplanung bei Psychotherapeuten abzuschaffen.

Die Geschäftsstelle des Gemeinsame Bundesausschusses verteidigt hingegen das Vorgehen. Sie betont, dass lokal und regional „umfassend“ von der Bedarfsplanungsrichtlinie abgewichen und örtliche Besonderheiten berücksichtigt werden könnten. Die Richtlinie werde stets angepasst, und die Bedarfsplanung abschaffen könne ohnehin nur die Politik.

Doch warum wird die Verhältniszahl nicht angepasst? „Es bestehen Vorbehalte gegenüber Psychotherapeuten“, sagt Ulrich Bestle von der Landespsychotherapeutenkammer RLP. Häufig heiße es, Therapeuten würden zu viele „leichte Fälle“ behandeln, Fälle zu lange behandeln, und mehr Angebot führe zu mehr Nachfrage. „Und es geht auch ums Geld“, sagt Bestle. Eine verantwortungsvolle Planung sei auch wichtig, „aber das alles führt zu der Verhinderungspolitik, wie sie seit Jahrzehnten besteht. Die bisherigen Reformen sind marginal.“

Kassen zahlen keine Dolmetscher

Geld wird auch an anderer Stelle benötigt, denn die Sprachbarriere ist ein zentrales Problem bei der psychotherapeutischen Behandlung von Flüchtlingen. „Mit Dolmetschern zu arbeiten, ist keine Selbstverständlichkeit“, sagt Markus Göpfert vom PSZ in Mayen.

Die Frage sei, wer die Kosten trage. „Das ist ein Riesenproblem. Hier im Zentrum haben wir dafür ein Budget, aber im niedergelassenen System bezahlt niemand Dolmetscher, denn es ist keine Kassenleistung“, sagt Göpfert.

Hinzu kommt: Ab dem 1. Juni erhalten Ukrainer Sozialleistungen nach dem Sozialgesetzbuch, nicht mehr nach dem Asylbewerberleistungsgesetz. Dadurch, sagt Markus Göpfert, entfalle vor Arztbesuchen zwar der Gang zum Gesundheitsamt, dafür ist es schwieriger, Dolmetscherkosten abzuwickeln.

„Es wird dann eigentlich unmöglich, einen Dolmetscher zu bekommen“, sagt Inga Machleit, Mitarbeiterin im PSZ in Mayen. Die Hürden seien groß. Dabei sei die Sprachverständigung mit den Klienten in der Therapie „das A und O“, sagt Machleit. Die Landespsychotherapeutenkammer RLP fordert, die Sprachmittlung zur Kassenleistung zu machen.

Auch damit Flüchtlinge erst gar keine Traumafolgestörungen entwickeln, ist eine gute Erstaufnahme wichtig. „Wenn Geflüchtete zu uns kommen und sie erleben, dass eine Hilfsstruktur da ist und dass Transparenz und Verständnis vorhanden sind, dann ist das positiv im Sinne einer Vorbeugung durch die Erhöhung von Resilienz“, sagt Brigitte Pollitt.

„Deshalb ist die derzeitige Phase so wichtig, denn damit kann man viel abfangen“, ergänzt Markus Göpfert. Bei der Anmeldung im Kindergarten helfen, eine Unterkunft organisieren oder einfach ein offenes Ohr leihen – darum gehe es aktuell. „Deshalb sind die ganzen Ehrenamtlichen so enorm wichtig. Ich würde sogar sagen, die sind im Moment wichtiger als die Therapeuten“, sagt Göpfert.

„Wenn dieser Prozess gut läuft, ist das im Sinne der psychosozialen Stabilisierung und beugt einer Symptombildung vor.“ Unterdessen scheint das Thema auch in der Politik angekommen zu sein. Der Koalitionsvertrag der Bundesregierung sieht vor, die Bedarfsplanung zu reformieren.

Top-News aus der Region