Als sich im 13. Jahrhundert in den Städten Innungen und Zünfte bildeten, nahmen in Andernach die sogenannten Nachbarschaften ihren Anfang. „Die in einem Bezirk wohnenden Bürger bildeten eine Art Genossenschaft, die sich untereinander mit Rat und Tat in Freud’ und Leid treu beistanden. Schließlich waren damals diese Nachbarschaften unter anderem auch für die Ordnung in ihrem Bezirk zuständig“, heißt es in einem Flyer der Andernacher St.-Martins-Nachbarschaft. Organisierte Nachbarschaftsbeziehungen spielen also schon seit langer Zeit in Andernach eine wichtige Rolle für die gegenseitige Unterstützung. 1925 gab es in der Kernstadt 13 Nachbarschaften. Eine von ihnen war die St.-Martins-Nachbarschaft, die jetzt auf ihr 100-jähriges Bestehen blicken kann.
Das Jubiläum wurde kürzlich mit der jährlichen Hauptversammlung (Geloog) der Nachbarschaft gefeiert. Dabei blieb genügend Zeit, das Prinzenpaar zu empfangen und gemeinsam einen unterhaltsamen Abend zu verbringen. „Wir haben vier Veranstaltungen im Jahr“, berichtet Herbert Lohrum. Der 74-Jährige ist seit 2017 Amtmann der Nachbarschaft. „Anfangs fanden diese Jahreshauptversammlungen jeweils am Fastnachtssonntag statt. Da es in Andernach zahlreiche Nachbarschaften gibt, verteilten sich die Versammlungen auf die ganze Fastnachtszeit, nicht zuletzt weil es nicht genügend große Räumlichkeiten gab, um alle Versammlungen an diesem einen Tag durchführen zu können“, betont der rührige Ehrenamtler.

Heutzutage trifft sich nur noch ein Teil der Andernacher Nachbarschaften in der Fastnachtszeit, die übrigen während des restlichen Jahres. Die vom Geloog gewählten Schöffen organisieren das nachbarschaftliche Leben und die jährlichen Veranstaltungen. Der Amtmann leitet die Sitzungen und vertritt die Nachbarschaft nach außen. In den vergangenen Jahrzehnten hat sich vieles verändert und doch sagt Amtmann Herbert Lohrum mit Überzeugung: „Meiner Meinung nach machen Nachbarschaften nach wie vor Sinn, auch wenn sich dieser Sinn und die Aufgaben im Laufe der Zeit verändert haben.“
Bereits am 10. Februar 1919 schrieb Stephan Weidenbach, Stadtarchivar und Gründungsmitglied der St.-Martins-Nachbarschaft, in sein Tagebuch: „Einzelne Nachbarschaften sind bereits dem Eingehen, Verfall recht nahe, selbst Amtmann und Schriftführer sprechen darüber abfällig als veraltet, unnütz. Die besseren Leute wollen nichts davon wissen. Schade!“ Aber es kam anders. Die Nachbarschaften in Andernach erhielten weiterhin großen Zuspruch, und um den Überblick nicht zu verlieren, gab es Abspaltungen und Neugründungen, wie beispielsweise bei der St.-Martins-Nachbarschaft im Jahr 1925.
„Hoffnung macht, dass teilweise auch in den Schulen schon Informationen über das Wesen unserer Nachbarschaften vermittelt werden.“
Herbert Lohrum, Amtmann der St.-Martins-Nachbarschaft
„Damals ging es unter anderem auch darum, wirtschaftliche Not abzumildern. Es wurden sogenannte Sterbekassen gebildet, um wenigstens ein würdevolles Begräbnis für die Nachbarn zu gewährleisten. Hinzu kamen bis in die 1970er-Jahre Beihilfen für alte und arme Nachbarn“, berichtet Lohrum. Mit der wirtschaftlichen Entwicklung seien dann finanzielle Aspekte in den Hintergrund getreten, „und es kam mehr und mehr zu dem Wunsch, soziale Kontakte zu pflegen“. Es folgten gemeinsame Tagesausflüge, das Döppekooche-Essen am Martinsfest und schließlich das Sommerfest, welches insbesondere Familien ansprechen sollte.
In der heutigen Zeit, in der zunehmend Egoismus und das Recht des Stärkeren in den Vordergrund treten, können Nachbarschaften als ideologiefreie Gemeinschaften ein Gegengewicht zum sozialen Auseinanderdriften bilden und soziale Netze erhalten. „Hoffnung macht, dass teilweise auch in den Schulen schon Informationen über das Wesen unserer Nachbarschaften vermittelt werden“, freut sich Amtmann Lohrum.

Gegründet wurde die St.-Martins-Nachbarschaft am 15. März 1925 im Saal des Schützenhofs. 22 Nachbarn nahmen an der Versammlung teil und gehörten somit zu den Gründern. Zuvor hatte die Obere-Kirchstraßen-Nachbarschaft beschlossen, das Gebiet östlich von Bismarckstraße und Kirchberg abzutrennen, wodurch zwei neue Nachbarschaften entstanden. Das Gebiet der neuen St.-Martins-Nachbarschaft grenzt nun unmittelbar östlich an das Gebiet der Oberen-Kirchstraßen-Nachbarschaft.
Die erste Nachbarschaftsfahne war bereits 1926 angefertigt und am 7. November desselben Jahres feierlich eingeweiht worden. Nach deren Verschleiß wurde am 10. November 1963 die heutige Fahne feierlich eingeweiht. Lohrum beschreibt sie wie folgt: „Auf der Vorderseite befindet sich in einer Raute das Bild des Heiligen Martin eingebettet in die Andernacher Landschaft: rechts die alte Stadt sowie links das ehemalige St.-Martins-Kloster, das im Bereich der St.-Martins-Nachbarschaft bis 1583 bestanden hat.“ Das zentrale Bild der Rückseite zeigt eine Nachbildung der Heiligen Dreifaltigkeit des Bildstocks am oberen Ausgang der Mayener Hohl.

Die Fahne dient der Begleitung der Nachbarn bei Beerdigungen und kommt bei kirchlichen Festtagen oder ähnlichen Anlässen sowie am Volkstrauertag zum Einsatz. Die Nachbarschaft umfasst das Gebiet Breite Straße bis zum Johannesplatz, die Ubierstraße, Frankenstraße, Martinsbergstraße, die untere Mayener Hohl bis zum Heiligen Baum, die Straße „Auf’m Kickel“, den Fielenmacherspfad, den Römerweg, Keltenweg und Trevererweg, die rechte Seite der Aktienstraße vom Johannesplatz bis zur Einmündung der Roonstraße sowie die Roonstraße von der Aktienstraße bis zur Einmündung der Vulkanstraße.