„Ich bin groß, tätowiert und habe eine Glatze. Sie werden mich erkennen“, beschreibt sich Finn Müller (Name von der Redaktion geändert) vor dem Gespräch mit unserer Zeitung. Vor etwa zwei Jahren verließ er nach erfolgreicher Therapie einer Sucht- und Persönlichkeitsstörung die Klinik Nettegut. Im Zuge der Diskussion über eine Wohngruppe für ehemalige Nettegut-Patienten bei den Barmherzigen Brüdern in Saffig wünscht er sich mehr Verständnis für Menschen wie sich.
Der Selbstbeschreibung als Ex-Knacki steht das freundliche und überlegte Auftreten eines Mannes gegenüber, der mit einer Schokoladenmilch und einer Tüte mit Frühstücksbrötchen in der Hand vor dem Eingang seiner Wohnung steht. Es stört ihn, wie in der Debatte um die Wohngruppe über ehemalige Nettegut-Patienten wie ihn gesprochen wird. „Es fühlt sich scheiße an. Ich habe das Gefühl, sie wollen mich brandmarken.“ Jeder habe eine zweite Chance verdient, vor allem diejenigen, die aufgrund einer Krankheit straffällig wurden. „Die Menschen, vor denen sie da Angst haben, sind alle krank. Hab’ ich den Fuß gebrochen, geh’ ich zum Chirurgen. Hab ich was am Kopf, geh’ ich eben in die Psychiatrie.“
„Ich habe gelernt, wie viel ich kaputtgemacht habe.“
Finn Müller, ehemaliger Patient der Klinik Nettegut
Müller fing mit neun Jahren an zu trinken. 25 Jahre lang war er alkoholkrank, später kam „alles, was es an chemischen Drogen gibt“ dazu. Mehrfach habe er versucht, selbst von den Drogen wegzukommen. „Das hielt nur ein paar Tage. Spätestens mit dem nächsten Rausch legte sich das Gefühl wieder.“ Wiederholt stand er vor Gericht. Wegen Beschaffungskriminalität, wie er sagt. Doch die Gefängnisstrafen waren reines Zeitabsitzen, so Müller.
Schließlich wurde er wegen schweren Raubes verurteilt und seine Unterbringung in einer Entziehungseinrichtung angeordnet. Für den Maßregelvollzug wurde er nach Paragraf 64 des Strafgesetzbuches in die Klinik Nettegut für forensische Psychiatrie eingewiesen. Begriffe und Orte, die dem Hunsrücker bis dahin vollkommen fremd waren.
Eine Klinik und kein Gefängnis
Er verstehe grundsätzlich, dass sich die Menschen in Saffig aus Unsicherheit und Unwissenheit Sorgen machen. Wofür Müller jedoch kein Verständnis hat, sind die Aussagen der Bürgerinitiative Sicheres Saffig. „Die reden und kennen nicht mal die Abläufe.“ Statt objektiv zu informieren, schüre die Initiative mit falschen Informationen Ängste.
Die Unterschiede zwischen einem Gefängnis und der Klinik merkte Müller schnell. „Die Klientel ist dieselbe, aber die Stimmung ist fröhlicher.“ Ein Zaun statt einer Mauer, eine normale Toilette statt Edelstahlklo und vor allem keine verschlossenen Türen. „Am ersten Tag habe ich die Tür 30 Mal auf- und zugemacht.“

Barmherzige Brüder verschieben Wohnprojekt
Bei der Infoveranstaltung der Barmherzigen Brüder Saffig zum geplanten Wohnprojekt für ehemalige Patienten der Klinik Nettegut schlugen die Wogen hoch. Jetzt sprach man mit Vertretern der Ortsgemeinde und Bürgerinitiative über die nächsten Schritte.
Auch die Therapie war für ihn neu, und am Anfang sträubte er sich dagegen. Heute sieht er sie als den Beginn eines neuen Lebens. Nach dem körperlichen Entzug sah er Erfolge. „Ich war immer misstrauisch und habe nie etwas preisgegeben. Aber hier hat es funktioniert.“ In Gruppen und Einzeltherapien musste er seine Kindheit aufarbeiten, seine kriminelle Vergangenheit und eine Rückfallprophylaxe ausarbeiten: „Ich habe gelernt, wie viel ich kaputtgemacht habe.“
Auch erhielt er eine Diagnose, die Vieles in seinem Leben erklärt. Müller hat eine dissoziale Persönlichkeitsstörung. Die Erkrankung, die häufig mit einer Suchterkrankung einhergeht, zeichnet sich aus durch die Missachtung sozialer Normen, eine geringe Frustrationstoleranz und die Unfähigkeit aus Strafen zu lernen. „Ich war ein impulsiver Mensch, weil ich unsicher war.“ Auch damit habe er gelernt umzugehen.
Mit neun Stufen zurück in die Gesellschaft
Zwei Tage in der Woche verbrachte er mit den Therapien, drei mit Arbeitstherapie. Müller baute Brettspiele für Sehbehinderte. In ihrer frei verfügbaren Zeit können die Patienten weitere Therapien machen oder sich weiterbilden. „Ich habe Leute gesehen, die haben dort ein Fernstudium gemacht.“
Mit den Fortschritten in der Therapie bekommen die Patienten in neun Lockerungsstufen immer mehr Freiheiten. „Ab Stufe 3 konnte ich mich frei auf dem Gelände bewegen. Im Sommer habe ich Stunden draußen gelegen und mich gesonnt.“ Dann folgen Ausführungen in Begleitung von Angestellten, Freigang mit vertrauensvollen Mitpatienten oder Familie. Doch diese Freiheiten werden auch wieder zurückgenommen, wenn sich der Patient nicht auf Therapien einlässt oder gegen Weisungen verstößt.
„Bevor jemand so die Klinik verlässt, haben so viele Menschen ja gesagt. Therapeuten, Gutachter und ein Gericht haben geurteilt, dass von dieser Person keine Gefahr mehr ausgeht.“
Finn Müller, ehemaliger Patient der Klinik Nettegut
Stufe 9, die letzte vor der Entlassung, ist schließlich die Beurlaubung, bei der Patienten weiterhin vom Nettegut betreut werden, aber in eigene, gegebenenfalls betreute Wohnungen oder Wohnheime für psychisch Kranke ziehen. Sie werden weiterhin vom Nettegut begleitet und unterstützt, aber auch überwacht. Das sind die Menschen, die in der Wohngruppe der Barmherzigen Brüder in Saffig leben sollen.
Einfach sei es nicht, zu diesem Punkt zu kommen, erklärt Müller. „Bevor jemand so die Klinik verlässt, haben so viele Menschen ja gesagt. Therapeuten, Gutachter und ein Gericht haben geurteilt, dass von dieser Person keine Gefahr mehr ausgeht.“ Neben der forensischen Ambulanz hatte Müller auch noch andere Bezugspersonen, wie die Betreuer der Wohnung, seinen Bewährungshelfer und einen gesetzlichen Betreuer.
Ehemalige Nettegut-Patienten leben in der Region – auch in Saffig
Sich wieder in die Gesellschaft zu integrieren, sei so schon schwierig. Da helfe es nicht, wenn Nettegut Patienten in der Saffiger Debatte als böse und gefährlich abgestempelt werden. Das sei nicht nur falsch, sondern auch blauäugig, meint Müller. „Es leben seit Jahren ehemalige Nettegut-Patienten in der Bevölkerung – auch in Saffig.“
Der Hunsrücker konnte sich ein neues, drogenfreies Leben aufbauen. Er hat wieder Kontakt mit seiner Familie. Er hat Hobbys. Er lernt häkeln, spielt Videospiele und kocht: „Als ich hier ankam, konnte ich eine Tütensuppe aufmachen. Jetzt macht es mir nichts aus, vier Stunden in der Küche zu stehen.“ Und er konnte echte Freundschaften schließen, bei denen es nicht um Drogenkonsum geht. „So etwas wie jetzt hatte ich nie. Ich habe immer von der Hand in den Mund gelebt.“
Nachdem er einige Zeit arbeitsunfähig war, möchte er bald wieder in einer Förderwerkstatt arbeiten. Am liebsten in der Näherei, denn kreative Arbeiten machen ihm besonders Spaß. Irgendwann hätte er gern eine eigene Wohnung. Vor allem möchte er abstinent bleiben und die zweite Chance, die ihm Nettegut und Therapie gaben, nutzen.