Jahre später bekannte der Regierungschef in einem Interview freimütig: „Das war die erregteste Atmosphäre, die ich bis dato erlebt hatte.“ Kohl verließ morgens um halb 4 den Debattenort. Jetzt hat Dr. Walter Rummel, Historiker und ehemaliger Leiter des Landesarchivs Speyer, nochmals die Wegmarken der damaligen Kreis- und Verwaltungsreform nachgezeichnet.
Marathon von sieben Stunden überstanden
Sieben Stunden dauerte die legendäre Bürgerversammlung, die der Höhepunkt einer langen Vorgeschichte gewesen war. Mehr als drei Stunden redete allein der junge Helmut Kohl (39), der von Innenminister Heinz Schwarz und Finanzminister Jakob-Wilhelm Gaddum begleitet wurde. „Es war eine Ansprache, die an Hitzigkeit in Deutschland gesucht werden muss“, sagt heute der Historiker Rummel.
Effizienz der Verwaltung auf Herz und Nieren geprüft
Auch die Altkreise wurden auf ihre Leistungsfähigkeit auf Herz und Nieren getestet. Das Ergebnis für den Kreis Mayen war ernüchternd: Mainz schlug ein Zusammengehen mit dem Kreis Koblenz-Land vor, dabei sollten die Gemeinden im Brohltal und um Kelberg abgegeben werden. Das Kreishaus sollte künftig in Koblenz sein – bis heute ein Kuriosum: Es ist der einzige Sitz einer Kreisverwaltung, dessen Fundament nicht im Kreisgebiet steht. „Es war die tiefgreifendste Reform des jungen Bundeslandes“, erläutert Walter Rummel.
Wie aber hat Helmut Kohl die „Nacht der langen Messer“ durchgestanden und überstanden?
Rummel zeichnet das Bild des aufstrebenden, durchsetzungswilligen Politikers nach, der zu den „jungen Wilden“ in der CDU zählte, bereits mit 29 Jahren in den Landtag einzog und mit 33 Jahren Chef der Landtagsfraktion wurde – und nicht selten in Widerspruch zum damaligen Ministerpräsidenten Peter Altmeier (CDU) geriet. Schon im Wahlkampf 1967 schrieben sich die Christdemokraten den Slogan „Zukunft“ auf die Parteifahnen und signalisierten, dass ein Bewahren ihnen nicht genügte.
Denn: Das Land Rheinland-Pfalz, gern als „Land der Reben und Rüben“ verspottet, galt seinerzeit als Armenhaus der Bundesrepublik. „Kohl wollte Rheinland-Pfalz nach vorn bringen.“ Während Amtsvorgänger Altmeier noch 1963 einer Verwaltungsreform keine Chance eingeräumt hatte, war eine Gebietsreform für Kohl ein Eckpfeiler seiner Reformpolitik, die mit der Einführung konfessionsfreier Schulen begonnen hatte.
Ziel der Gebietsreform
„Die Gebietsreform war eine Funktionalreform, es ging um eine Effizienzsteigerung bei Vereinfachung der Abläufe“, skizziert Historiker Rummel. Er zitiert aus einem Landtagsprotokoll, aus einer Sitzung, in der der SPD-Abgeordnete Adolf Wilhelm Rothley von „neuen Überlegungen“ sprach, „dass die Verwaltung der Zeit gerecht wird“. Es ging um die Neueinteilung von Kreisen und Behörden – da ist ein Zwischenruf Kohls notiert: „Sehr gut!“
Mitten in der heißen Phase der Kommunalreform tauchte Kohl in Mayen auf. Schon sein Einzug in den Saal des Sterngartens war überlagert von Buh- und Pfui-Rufen. Kohl wurde geschubst, als er den Weg zum Rednerpult suchte, als „Mörder“ bezeichnet – aber: Es brauchte nur einen Polizisten in Uniform, um dem Regierungschef den Weg freizumachen, und das, wie Rummel betont, „vor dieser siebenstündigen Redeschlacht“.
Kohl kam elfmal zu Wort, gleich zu Beginn bat er um eine sachliche Diskussion. Weitere 38 Redebeiträge sind dokumentiert auf insgesamt 149 mit Schreibmaschine geschriebenen Seiten. Bis 3.30 Uhr wurden Untergangsszenarien der Stadt Mayen und des Umlandes gezeichnet. Kohl hielt dagegen. Er trug Sachargumente vor, weshalb eine Verwaltungsreform notwendig sei. Nach 20 Jahren in relativem Wohlstand bleibe noch vieles zu tun, um die Weichen für den Aufbruch in die 70er-Jahre zu stellen. „Kohl redete keinem nach dem Mund“, so Rummel.
Kohl blieb hart
Er zieht den Hut vor dem jungen, dynamischen Politiker von damals. „Kein Politiker hat einen solchen politischen Marathon durchgestanden wie er“, sagt Rummel. Er lässt teilhaben an der Argumentation Kohls. Der sagte damals, dass man Politik aus einem Guss machen müsse, man müsse jährlich besser werden, und Verwaltungen müssten für notwendige Veränderungen fit gemacht werden. Kohl fragte, ob jene Verwaltung noch zeitgemäß sei, und gab sich selbst die Antwort: Nein, sie passe nicht in die Landschaft der 70er-Jahre.
Tonbänder lange unter Verschluss
Der Tonmitschnitt während dieser Nacht wurde später zum Politikum in Mainz. In einer aktuellen Stunde im Landtag wurde der Landesregierung vorgeworfen, die Tonbänder unter Verschluss gehalten zu haben. Kohl sagte, er habe die Veröffentlichung nicht zu verhindern versucht, aber es sei zunächst ein „Akt der Fairness“ gewesen, den Livemitschnitt „aufgrund von sprachlichen Defiziten“ – gemeint waren Verbalinjurien, vor allem von Minderjährigen – nicht an die große Glocke zu hängen. Gleichwohl zeigte Kohl Verständnis: „Diese deftige Sprache bin ich aus meiner Heimat, der Pfalz, gewöhnt.“
Welche Auswirkungen hatte die harte Haltung der Landesregierung auf Wahlen? Die Protestpartei gegen die Verwaltungsreform, die Freien Wähler, ging bei der Landtagswahl von 1971 sang- und klanglos mit 0,25 Prozent der Stimmen baden, während Kohls CDU einen grandiosen Wahlsieg mit Erringung der absoluten Mehrheit einfuhr.
A61 ließ Rheinland-Pfalz zusammenwachsen
Kohls Reform bewertet Historiker Rummel aus heutiger Sicht als positiv. „Die wirtschaftliche Entwicklung von Rheinland-Pfalz ging nach oben.“ Die Verwaltungsreform habe das Land weitergebracht, weil die neuen Einheiten professionell und leistungsorientiert zu arbeiten gelernt hätten. Kohl schließlich habe seinen Erfolg auch auf „Geradlinigkeit und Bürgernähe selbst in kritischen Lagen“ gründen können. Wichtiger für das soziale Zusammenwachsen von Nord und Süd sei im Übrigen nicht der neue Verwaltungszuschnitt gewesen. Walter Rummel: „Eine durchgehende Autobahn, die A 61, war viel bedeutender.“
Am Mittwoch, 10. April 2024, beleuchtet Dr. Lutz Grundwald vom Leibniz-Forschungsinstitut für Archäologie das Thema „Alter Kult und frühes Christentum“. In Kurzführungen um 18.30 Uhr und um 19.30 Uhr wird er einen intensiven Blick auf ausgewählte, thematisch passende Exponate werfen und weiß das ein oder andere interessante Detail dazu zu erzählen. Der Eintritt ist frei.