Noch-OB spricht im RZ-Interview über das Erreichte und seine Pläne für die Zukunft
Der scheidende Andernacher OB Achim Hütten im Interview: „Ich gehe jetzt glücklich“
Achim Hütten wird sein Büro im ersten Stock des Andernacher Rathauses am Freitag räumen, um Platz für seinen Nachfolger Christian Greiner zu schaffen. Sich nach so langer Zeit von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verabschieden, fällt ihm nicht leicht.
Martina Koch

Andernach. Am 18. August 1994 trat Achim Hütten das Amt des Andernacher Oberbürgermeisters an. Wenn er sich am Freitag nach rund 29 Jahren von seinen Mitarbeitern verabschiedet, endet eine Ära. Die RZ hat den 65-Jährigen zu einem Gespräch in seinem Büro im Andernacher Rathaus getroffen.

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29 Jahre im Amt: Andernacher Oberbürgermeister Achim Hütten geht in Rente
Offiziell wurde der Noch-Stadtchef bereits vergangenen Woche mit einer Feier in der Andernacher Mittelrheinhalle verabschiedet.
Sascha Ditscher

Herr Hütten, Sie waren fast drei Jahrzehnte lang Andernacher Oberbürgermeister. Haben sich die Herausforderungen des Amts in dieser Zeit verändert?

Was sich entwickelt hat, sind natürlich die Herausforderungen der Bürokratie. Bei jeder Großveranstaltung, wie dem Rosenmontagszug, sagt der Gesetzgeber: Jedes Risiko, das von der Veranstaltung ausgeht, müsst ihr begutachten und im Prinzip ausschließen. Das hat sich enorm gesteigert. Wenn sie die Sicherheitskonzepte sehen für den Michelsmarkt oder Rosenmontag: Das sind 80, 90 Seiten, die da zusammenkommen.

Die Anzahl der Förderprogramme hat ebenfalls enorm zugenommen. Wir haben auf europäischer Ebene, auf Bundes- und auf Landesebene etwa 6000 Programme, die man anzapfen kann. Und jedes davon ist mit sehr viel Bürokratie verbunden und auch damit, dass sie Konzepte entwickeln lassen müssen. Ich spreche da hin und wieder von einer Beratungsindustrie in Deutschland. Da hat sich schon was verändert.

Hat sich die finanzielle Ausstattung der Kommunen, über die derzeit viel diskutiert wird, in ihrer Amtszeit verschlechtert?

Früher diente der kommunale Finanzausgleich dazu, dass jede Kommune glaubte, sie habe das größte Stück vom Kuchen bekommen. Und heute glaubt jede Kommune, sie hätte das kleinste Stück bekommen. Tatsache ist, das Land hat jetzt 275 Millionen Euro mehr reingesteckt, und die Kommunen wissen gar nicht so richtig, wo das Geld hingegangen ist.

Wir müssen uns aber natürlich auch ehrlich machen: Was wir in Rheinland-Pfalz an Kinderbetreuung anbieten, ist vorbildlich. Das ist eine große Erleichterung für das Familienleben und das Familienbudget. In Andernach fehlt kein einziger Kitaplatz. Wir haben Schwerpunkte in der Politik gesetzt, wir sind eine kinderfreundliche Stadt. Und wenn man im Zuge dessen auch mal die Grundsteuer anheben muss: Dann ist das so. Ein kostenloser Kitaplatz ist wesentlich mehr wert, als wenn die Grundsteuer für ein Haus, das seinen Wert in den letzten Jahren verdoppelt hat, behutsam erhöht wird.

Über die Stadtgrenzen hinaus machte Andernach in erster Linie durch den Geysir und die Essbare Stadt von sich reden. Beide Vorhaben waren zunächst durchaus umstritten. Wie sind sie mit dieser Kritik umgegangen?

Wenn du Neues in die Welt kommen lässt, dann begegnen dir laut dem deutsch-amerikanischen Ökonomen Otto Scharmer immer zwei Stimmen: die Stimme der Angst und die Stimme der Ironie. Sie haben die Angst, als Politiker zu scheitern, und die Ironie der Leute, die sagen: Der spinnt ja. Wir erwarten am Geysir in diesem Jahr den zweimillionsten Besucher, das entspricht einem Umsatzvolumen von weit über 20 Millionen Euro in den letzten Jahren. Und wir haben damals etwas über 9 Millionen Euro investiert. Die Stadt selbst hat ein gutes Drittel davon aufgebracht. Und dann kommt noch die Wertschöpfung dazu: Es sind vier Hotels entstanden, die Gastronomen haben davon profitiert und auch die Einzelhändler.

Oder auch die Essbare Stadt: Der erste Artikel darüber erschien in der Rhein-Zeitung an einem 1. April. Natürlich haben die Leute damals gesagt: Das ist ein Aprilscherz. Aber im Herbst, als wir unser erstes Tomatenfest veranstalteten, war die Begeisterung schon sehr groß. Die Bürger sind immer stolz, wenn sie ihre eigene Stadt in der überregionalen Presse sehen. Wir waren mit der Essbaren Stadt in der „Tagesschau“.

Wenn sie sich am Anfang allzu sehr davon leiten lassen zu scheitern, dann lassen sie nichts Neues mehr zu. Da musst du schon ein bisschen Mut aufbringen. Das werden sie bei jedem Bauvorhaben erleben, dass die Menschen dazu kritisch stehen. Bei jedem. Wenn sie das nicht überwinden, dann machen sie gar nichts. Dann ist die Kritik hinterher umso größer. Aber sie müssen natürlich die Menschen mitnehmen.

Gibt es Vorhaben, an deren Umsetzung Sie gescheitert sind?

Grundsätzlich eigentlich nicht. Was heute sehr lange dauert, ist die Erschließung neuer Gewerbe- aber auch Wohngebiete. Das hängt mit vielen Faktoren zusammen – in Andernach insbesondere am Erwerb vom Grund und Boden. Das dauert halt sehr lange.

Sie waren als Stadtchef auch mit Missständen konfrontiert, die nicht unbedingt in Ihrem Einflussbereich lagen. Der heruntergekommene Zustand einiger Häuser in der Rheinstraße gehört beispielsweise dazu. Hätten Sie in solchen Fällen gern eingegriffen?

Wir haben immer wieder versucht, die Rheinstraße ein Stück weit aufzuwerten. Ich habe die Rheinstraße in meiner Jugend als Erlebnisstraße miterlebt. Dann habe ich erlebt, wie die Eigentümer Spielhallen daraus gemacht haben. Und wenn sie ein, zwei Spielhallen haben, dann schlagen sie damit andere Nutzungen kaputt. Da haben wir vielleicht in den 80er-Jahren zu spät reagiert, um dies durch entsprechende Festsetzungen in Bebauungsplänen zu verhindern. Aber auch da wird sich irgendwann wieder etwas entwickeln. Ich hatte immer auf den Tourismus gehofft, aber das ist an der Stelle nicht in dem Maße gelungen. Wir können als Stadt nur die Rahmenbedingungen setzen und nicht in jedes Geschäft selbst eingreifen.

Ihre Tochter hat bei Ihrer offiziellen Verabschiedung auf Ihre fast 30-jährige Amtszeit zurückgeschaut. Wie blicken Sie aus familiärer Sicht auf diese Zeit zurück?

Ich habe mich immer durch meine Familie unterstützt gesehen. Es ist aber auch nicht unproblematisch, einem so zeitintensiven Beruf nachzugehen. Am Wochenende hatte ich noch mal drei, vier Termine, da sagte meine Frau: Das nächste Wochenende können wir dann frei gestalten. Aber am Ende eines langen Berufslebens sage ich: Auch in anderen Berufen gibt es Konflikte. Ich will das nicht zu sehr auf meinen Beruf konzentrieren. Es gibt heute sehr viele Leute, die Fernbeziehungen führen müssen, weil der Arbeitsplatz woanders liegt. Es gibt auch Berufe, die samstags und sonntags anstrengend sind, und die ganzen Schichtarbeiter oder medizinisches Personal. Ich fühle mich da schon vom Leben gut behandelt, auch was meine Familie betrifft.

In den Abschiedsreden wurde ihre Fähigkeit herausgestellt, Kompromisse zu schmieden. Haben Sie dafür ein Patentrezept?

Es ist eine Gabe, die mir gegeben ist, in solchen Prozessen zu moderieren. Sie müssen in der Diskussion erkennen: Wo liegen denn die eigentlichen Interessen? Nicht immer sind die Interessen, die verbal vorgetragen werden, die eigentlichen. Und wenn sie ein bisschen hinter die Interessen kommen, müssen sie auch versuchen, niemanden zum Verlierer werden zu lassen.

Was mir geholfen hat und was ich immer als wohltuend für die Stadt empfunden habe: Es gab in Andernach nie Koalitionen zwischen politischen Fraktionen. Man hat immer versucht, mit wechselnden Mehrheiten – und in meinem Fall mit großen Mehrheiten – zu arbeiten, um alle Fraktionen mitzunehmen. Es kam mir nie darauf an, die Dinge knapp zu entscheiden. Wenn man Menschen mitnehmen will, muss es einem zunächst gelingen, den Rat mitzunehmen.

Achim Hütten wird sein Büro im ersten Stock des Andernacher Rathauses am Freitag räumen, um Platz für seinen Nachfolger Christian Greiner zu schaffen. Sich nach so langer Zeit von seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern zu verabschieden, fällt ihm nicht leicht.
Martina Koch

Die Leute überschätzen die Macht eines Oberbürgermeisters. Die Machtposition bestimmt sich aus der Fähigkeit, Menschen mitzunehmen, den Rat mitzunehmen und dann zu Entscheidungen zu kommen, die der Stadt guttun und nicht der einzelnen Partei. Wenn es ums Ganze ging, haben wir in Andernach als Fraktionen und Verwaltung zusammengehalten.

Ich habe mich in der Corona-Zeit an den Wochenenden als Mediator zertifizieren lassen. Dabei habe ich festgestellt, dass ich das, was ich da lernen konnte, nämlich ein strukturiertes Gesprächsverfahren, in ähnlicher Form mein Leben lang schon angewandt habe.

Es hieß, dass Sie in diesem Bereich künftig beruflich tätig sein werden.

Ich werde mich mit meiner Tochter selbstständig machen im Bereich Moderation, Mediation, aber auch Rhetorik. Ich brauche das nicht mehr des Gelderwerbs wegen, aber ich muss meinen Geist ja offen und frei halten für neue Dinge.

Man kann Sie also künftig als Berater buchen?

Ich stehe für Moderation und Beratung jederzeit zur Verfügung. Aber ich werde mich nicht mehr in die Kommunalpolitik einmischen. Ich werde auch keine Parteien in der Kommunalpolitik mehr beraten. Es gehört sich meines Erachtens nicht, den Besserwisser zu spielen. Ich wollte es immer vermeiden, arrogant zu werden. Die jungen Kommunalpolitiker müssen ihre eigenen Erfahrungen machen.

Dem Kreistag Mayen-Koblenz werden Sie aber noch angehören?

Bis zur nächsten Wahl auf jeden Fall! Ich will die Fraktion nicht im Stich lassen. Und werde bei der nächsten Kreistagswahl vielleicht noch mal kandidieren, aber nicht als Listenführer. Auch da muss ein Generationswechsel her.

Welche privaten Projekte wollen Sie ab April in Angriff nehmen?

Ich habe mir eine Vespa gekauft und will damit über die Alpen. Das ist mein großes privates Projekt. Und das Übliche: ein bisschen mehr Sport zu treiben, etwas gesünder zu leben, um mein Alter noch gesund genießen zu können.

Ich will meinen eigenen Erwartungen gerecht werden, nachdem ich ein Leben lang versucht habe, den Erwartungen anderer gerecht zu werden – ohne egoistisch zu werden. Eher vor dem Hintergrund: Ohne Selbstliebe gibt es keine Nächstenliebe. Meine Motorradreise ist nicht nur ein Spleen. Das ist mein Jakobsweg. Ich will nicht nur nach Italien kommen, ich will auch ein Stück weit zu mir selbst kommen. Ich bin ja ein Mensch, der sehr viel in der Öffentlichkeit stand. Ich gehe aber auch sehr gern allein irgendwohin, in ein Café, wo mich niemand kennt. Ich liebe es, die Position des Beobachters einzunehmen und in aller Ruhe irgendwo zu sitzen.

Sie haben in den vergangenen Wochen viel Zeit mit Ihrem Nachfolger verbracht. Wie haben Sie die Amtsübergabe gestaltet?

Christian Greiner war viel in der Verwaltung, hat sich mit Mitarbeitern aber auch mit mir unterhalten. Er wird das schon richtig angehen! Wobei ich auch hier keiner bin, der große Ratschläge erteilt. Ich sage: Ihr könnt mich jederzeit um Rat fragen. Aber es fragt ja keiner. Mich muss auch keiner nach Rat fragen, es muss jeder seine Entscheidungen selbst treffen. Manchmal geht es auch nur darum zu fragen: Wie war das damals? Das macht man schon mal. Am Ende kannst du vieles lernen, entscheidend kommt es aber darauf an, Haltung zu haben im Leben. Nach dem Psychologen Carl Rogers sind das die Grundvariablen Empathie, bedingungslose Wertschätzung und dabei authentisch zu bleiben.

Sind Sie mit dieser Haltung einmal daran gescheitert, sich mit einem Menschen zu verständigen, der Ihnen im Beruf begegnet ist?

Im Stadtrat überhaupt nicht. Das sind vernunftbegabte Menschen. Aber wenn Politik mehr davon geprägt ist, wie ich die Umfragewerte meiner Partei verbessern kann, als davon, wie ich das Leben der Menschen besser machen kann, dann wird es schwierig. Dann wird es auch mit den Umfragewerten nichts. Wir müssen überlegen, wie wir die Welt nicht komplizierter, sondern wie wir sie einfacher und gerechter machen. Wenn wir meinen, wir müssten die Situation für uns und die Umfragewerte besser machen, dann haben wir am langen Ende verloren.

Fällt es Ihnen schwer, aus dem Amt zu scheiden?

Vor der Abschiedveranstaltung vergangene Woche war ich relativ wehmütig. Aber die lobenden Reden haben mir den Abschied leicht gemacht. Wenn mir heute etwas schwer fällt, dann ist es der Abschied von meinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Von der Bevölkerung muss ich mich nicht verabschieden, weil ich Bürger dieser Stadt und dem gesellschaftlichen Leben nah bleibe. Ich gehe jetzt glücklich.

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