„Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider“, dichtete einst der deutsche Schriftsteller Kurt Tucholsky. Ob er dabei die Menschen in der portugiesischen Hauptstadt am Tejo, der sich vor den Cais das Colunas zu einem großen See verbreitert und das nahe gelegene Meer vorwegnimmt, im Sinn hatte? Dass solche Augenblicke in Lissabon, mehr als anderswo, den Reiz der Stadt ausmachen, weil sie deren Besuchern Perspektiven gewähren, die über die der literarischen Reiseführer weit hinaus gehen, erfährt, wer sich auf Metropole und Menschen einlässt.
„Die Portugiesen sind wie die Briten, sehr formell, die Spanier sind eher wie die Amerikaner“, erklärt Fahrer Hugo Rocha, während er den Wagen ruhig durch die großen Straßen Richtung Zentrum lenkt, vorbei an Häusern mit portugiesischen Fliesen, an modernen Neubauten und unbewohnten Gebäuden, die verfallen – mitten in der City. Der gebürtige Lissabonner, dessen Familie seit vier, fünf Generationen hier lebt, ist einer von 600.000 Einwohnern, die im eigenen Haus in der Stadt leben. Er wirkt stolz, als er erzählt, dass er vor 20 Jahren nicht, wie viele andere junge Leute, in die inzwischen mit 2,5 Millionen Menschen bevölkerten Außenbezirke gezogen ist, in neue Häuser, sondern geblieben, und heute da wohnt, wo es sehr schwer ist, eine bezahlbare Wohnung zu bekommen.

Das Besondere an Lissabon sei, dass die Menschen so offen, so im Kontakt seien mit ihren Besuchern, sagt Carmo Botelho vom Tourismusbüro, das in Lissabon „Turismo de Lisboa“ heißt. Wenn die sympathische Portugiesin es „Lischboa“ ausspricht, mit weichem Sch, dann liegt darin die ganze Liebe zu ihrer Heimat. Sie kennt in der Stadt alles und jeden, die besten Restaurants, die kulinarischen Besonderheiten, den herzzerreißenden Fado und weniger bekannte Ecken abseits des Touristenstroms. So wird die Erkundung der Stadt am Tejo zu einer kultivierten Abenteuerreise.
Wege, die Weltmetropole zu entdecken, gibt es viele. Angefangen bei den Straßenbahnen, die Lissabon durchziehen und besonders in den engen Straßen der Alfama, der berühmten Altstadt, in teils halsbrecherischer Fahrt an den Fußgängern, Autos und Tuk-Tuks vorbeirasen, über eben jene kleinen Autorikschas – die in der portugiesischen Hauptstadt ausschließlich elektrisch, also eben nicht mit den typischen Dreitaktmotoren unterwegs sind, deren Geräusch den Gefährten ihren Namen gab – und der Seilbahn, ein Überbleibsel der Weltausstellung 1998, bis hin zum Boot, das einerseits Touristen einen anderen Blick auf die Stadt verspricht, andererseits tägliches Verkehrsmittel vieler Pendler ist.

Gemächlich schaukelnd auf den Wellen des Tejo, die sinnbildlich für die Stadt und das Gemüt vieler Lissabonner sind, so sehr, dass sie sich in weißen und schwarzen Kacheln auf dem Rossio dargestellt finden, geht es von der Anlegestelle am Ozeanarium auf dem ehemaligen Expo-Gelände in Richtung Triumphbogen der Rua Augusta. Langsam ziehen die Pavillons der Weltausstellung vorbei, deren spätere Nutzung weitsichtig bereits im Vorfeld bedacht und eingeplant wurde.
So ist seit 1998 auf dem weitläufigen Gelände in der Nähe des Flughafens, vorher Industriegebiet, das modernste Viertel der Stadt entstanden. Aus der Vogelperspektive der Seilbahn, die ebenfalls am Ozeanarium beginnt und am Torre Vasco da Gama endet – oder umgekehrt – ist der Blick über das weitläufige Gelände mit seinen zum Teil futuristischen Gebäuden beeindruckend.
Parque das Nações : früher Industriegebiet, heute modernstes Viertel von Lissabon
Hier, im Parque das Nações, im Park der Nationen, lohnt ein Besuch des Senhor Peixe Restaurante. An einer großen Theke können sich die Gäste ihren Fisch noch im Ganzen aussuchen. Während sie bei einem Glas Vinho Verde, köstlich-cremigem Schafskäse von der Monte da Vinha Käserei, ein paar Oliven und knusprigem Brot plaudern, wird der Meeresbewohner zubereitet, später am Tisch filetiert, portioniert und den Hungrigen vorgelegt. Dass frische und vielfach regionale Produkte, am besten in Bioqualität, verwendet werden, passt gut zu den Lissabonnern, die das Leben genießen können, und sei ein eher aktueller Trend, der sich seit einigen Jahren immer stärker durchsetzt, weiß Carmo Botelho.

Auf dem aktuellen Stand ist auch das Museum, das die Lissabonner ihrer Fado-Ikone, Amalia Rodrigues, gewidmet haben. Hier gibt Pedro Lopes, ein „good worker“, ein guter Arbeiter, wie er selbst lachend bemerkt, Restwissen aus seinem Studium der Politikwissenschaft preis, während er die Gruppe in Räume mit Exponaten der Sängerin und ein sinnverwirrendes Spiegelzimmer voller großer Kirschen begleitet. Die Früchte sollen den bis heute unbekannten Geburtstag Amalias im Sommer symbolisieren.
Virtual-Reality-Brillen führen in einem verblüffenden Flug durch das Haus der Sängerin. Im Theater schließlich erscheint Amalia, die Poesie und Widerstand, Stärke und Zartheit in sich vereinte und das Gefühl, das Schicksal, wie Fado auf Deutsch heißt, der Arbeiter in den traditionellen portugiesischen Gesang übertrug, als grünlich gefärbtes Hologramm und vermittelt in Dolby Surround einen Eindruck, wie es war, die Fado-Künstlerin bei einem ihrer Auftritte zu erleben.

Die neue Generation der Interpreten findet sich allabendlich zum Beispiel in Mouraria ein, einem ehemaligen Rotlichtbezirk, der zu einem angesagten Ausgehviertel avancierte. In der winzigen Gaststube des Restaurants Maria da Mouraria gestalten etwa Ana Margarida Prado und Pedro Moutinho mit ihrem wehmütigen, inbrünstigen Gesang berührend den Abend, während sich die etwa 30 Zuschauer in den Pausen mehreren Gängen gehobener portugiesischer Hausmannskost widmen.
Beide Fadokünstler haben internationale Erfahrung, Moutinho ist sogar ein Star in Polen. Das mag daran liegen, dass die Osteuropäer die portugiesische Form der melancholischen Glückseligkeit, der glücklichen Traurigkeit, nachfühlen können, wie der Fadosänger vermutet.
Dieses Lebensgefühl, das sie „Saudade“ nennen und das so typisch ist für das Land am Atlantik, drücken die Lissabonner auf viele Arten künstlerisch aus. Für Catarina Rodrigues zeigt ein meterhohes Mauergemälde von Mario Belem das Wesen von Saudade. Den Begriff gebe es in keiner anderen Sprache, sagt sie und zeigt auf das riesige Bild einer Frau und ihrer Gedanken. „Jeden Künstler inspiriert dieser Blick“, ist sie sich sicher. In ihrem Tuk-Tuk führt die Malerin, die dabei auch ihren Körper als Werkzeug nutzt, auf einer individuellen Tour zu weiteren Murals unterschiedlichster Stile, Materialien und Motive.
„Jeden Künstler inspiriert dieser Blick.“
Malerin Catarina Rodrigue führt eine Tuk-Tuk-Tour
Eine große Bandbreite davon zeigt sich einige Kilometer entlang der Rua Gualdim Pais, wo sich auch unbekanntere Künstler verewigt haben. In der gesamten Stadt hat Artur Bordalo seine Spuren hinterlassen. Die übergroßen Tier-Kunstwerke, die der portugiesische Street-Art-Künstler und Maler aus Müll aus der Stadt und dem Meer gestaltet hat, genießen inzwischen eine große Fangemeinde. Beeindruckend ist auch die Mauer des Jardim Botto Machado. Hier bilden 52.738 von Künstler André Saraiva handbemalte, bunte Fliesen einige der markantesten Sehenswürdigkeiten Lissabons ab.
Es spricht für deren Stadtverwaltung, dass sie ein spezialisiertes Team für Urban Art, Kunst im öffentlichen Raum, in der Abteilung für Kulturelles Erbe geschaffen hat. So wolle sie der Kunstform die Illegalität nehmen und den Künstlern Raum geben, um sich ausdrücken zu können, erklärt Carmo Botelho. Inzwischen habe sich Lissabon zu einem Hotspot der Street-Art-Szene entwickelt, weiß Catarina Rodrigues.

Straßenkunst gibt es auch auf dem Gelände einer ehemaligen Textilfabrik und Druckerei. Hier findet sich mit der LX Factory fast noch ein Geheimtipp in dem viel besuchten Touristenmagneten Lissabon. In den leer stehenden Hallen und Gebäuden haben sich Start-ups und Co-Working-Spaces, dazu Agenturen und Studios aus der Werbe-, Kommunikations- und Mode-Branche angesiedelt. Es gibt Bars, Cafés, Restaurants, kleine Geschäfte für Souvenirs und einen Buchladen, der Liebhaber in den Industriehimmel hebt.
Neben den verborgenen Schönheiten bietet auch Lissabon touristische Höhepunkte, die bei keinem Besuch fehlen dürfen. Die köstlichen kleinen Pastéis de Belém, knusprige Blätterteigschalen, gefüllt mit einer süßen Vanillecreme, warm serviert ein himmlischer Genuss, gehören dazu. Die beliebten Backwerke werden nur hier, im Casa Pastéis de Belém, nach dem 1837 von Mönchen des benachbarten Hieronymus-Klosters übernommenen Rezept gebacken. Das ist bis heute ein von wenigen Familienmitgliedern in der Geschäftsführung der Fabrica streng gehütetes Geheimnis und wird von Generation zu Generation weitergegeben.

Den Espresso oder Kaffee, am besten in mit den typischen Azulejos gefliesten Hallen des Casa Pastéis de Belém eingenommen, serviert unter anderem Ivan Santos. Während seine Kolleginnen hinter Glasscheiben vor den Kameras und Augen Tausender Besucher die kleinen Törtchen formen, verwöhnt der 22-Jährige diejenigen, die einen Sitzplatz ergattern konnten, mit einem charmanten Lächeln und geschultem Service. Als er vor einem Jahr anfing, habe er drei, vier der süßen Pastetchen täglich gegessen, schmunzelt er: „Jetzt ist es mal eines am Tag.“
Apropos Spezialitäten: Im Stadtzentrum wird der berühmte Sauerkirschlikör Ginja genossen, am besten in Baixa, in der kleinen Bar „A Ginjinha“, wo er seinen Ursprung hat und ihn die Familie Espinheira in fünfter Generation herstellt und ausschenkt. Einen Katzensprung entfernt gibt es im traditionsreichen Feinkostgeschäft Manteigaria Silva neben dem Bacalhao, dem getrockneten Stockfisch, auch „Schwiegermutterzunge“, die Zunge des Kabeljaus.

Nur wenige Schritte weiter verbirgt sich hinter den großen Portalen der Igreja de São Domingos eine weitere Lissabonner Besonderheit. Die Kirche aus dem 13. Jahrhundert ist von außen eher unscheinbar. Im Inneren entfaltet sie eine farbige Pracht mit der terrakottafarbenen Wölbung der Decke, dem elfenbeinfarbenen Fußboden und den verschiedenen architektonischen Elementen aus unterschiedlichen Epochen. Einzigartig machen die Kirche jedoch die Ruß- und Rauchspuren, die ein Brand 1959 in dem sakralen Gebäude hinterließ. Sie sind bis heute zu sehen und verleihen dem Bauwerk einen leicht morbiden Charakter.
Hier, im Zentrum der Innenstadt, nahe des Rossio, wo sich seit dem Mittelalter die Lissabonner und ihre Gäste treffen – nicht umsonst heißt er Platz der Menschen,“People’s Place“, wie Carmo Botelho erklärt – lockt eines der vielen Einkaufszentren, die diese konsumfreudige Stadt allerorten zu bieten hat. Hinter vorbeieilenden Beinen sitzt Elena auf dem Bürgersteig, ganz am Rand, neben sich ihren Hund, vor sich eine Blechtasse, in der einige Münzen liegen. Die 28-Jährige lebt derzeit in einem leer stehenden Haus. Bald müsse sie von dort weggehen, erzählt sie, und dann sei sie wieder obdachlos.

Während die Menschen an ihr vorbeieilen, erinnert sich Elena an den Moment vor sechs Jahren, als sie das elterliche Haus ihres Vaters verlassen musste, das verkauft wurde, weil er zu seiner neuen Lebensgefährtin zog. Die Vorbeigehenden würdigen die schmale Frau keines Blickes. Das habe sich seit Corona verstärkt, bemerkt Elena. Wie es ihr damit gehe? „Anfangs hat es mir wehgetan, jetzt ist es mir egal. Das muss es auch sein, sonst würde ich verrückt werden“, sagt sie und schenkt einen persönlichen Moment, der nachwirkt.
Einen Blick hinter die Kulissen gewährt Cristina Cavalheiro, die in der Kirche Santa Cruz do Castelo de São Jorge an der Festungsanlage, einen Seitenaltar restauriert. Still arbeitet die Frau hinter einem gelben Absperrband in dem belebten Touristenziel, deren Besucher auf dem Weg zum Turm – ein weiterer Ort für einen wunderbaren Ausblick auf eine der schönsten Städte der Welt – an ihr vorbeiflanieren.

Mit Gips, „Schritt für Schritt“, wie sie sagt, widmet sich die Restauratorin ihrem filigranen Werk und ergänzt geschwungenen Zierrat an einer Konsole. Angesprochen, berichtet die zurückhaltende Lissabonnerin, dass die Säulen, die in Rot erstrahlen, vorher grün gewesen seien. „Jetzt ist es wieder wie im Original“, stellt sie mit einem schüchternen Seitenblick zufrieden fest.

„Zwei fremde Augen, ein kurzer Blick, die Braue, Pupillen, die Lider“, dichtete Kurt Tucholsky einst und fragte: „Was war das? Vielleicht dein Lebensglück ...“ Zwischen Tejo und Fado sind glückliche und melancholische Momente jedenfalls in vielen Formen zu finden – und besondere Augenblicke sowieso.