Reinhold Messner, bekennender Südtiroler, hat einmal folgenden Satz gesagt: „Übernommene Erfahrungen sind nur Oberfläche.“ Damit wollte er auffordern, immer hinter die Dinge zu schauen. Nicht einfach zu glauben, man wisse schon alles, nur weil man es schon öfter gesehen hat.
Südtirol ist ein Ort mit zugegeben von Anfang an wunderschöner Oberfläche. Und das Vinschgau, jenes lange Tal zwischen dem Meraner Becken und der vereisten Grenze zur Schweiz oder nach Österreich allemal. Man sieht in ihm zum Beispiel jene Dreifaltigkeit, ohne die die örtliche Gastronomie kaum vorstellbar ist: Äpfel, Speck und Wein. Letzteren in Form teilweise kleinster Terrassen, wie man sie auch von der Mosel kennt. Erstere wiederum erstrecken sich oft über kilometerlange Baumreihen. Und der Speck? Wenn er nicht schon fix und fertig im Laden liegt, blickt man auf der Suche nach seinem Ursprung oft erst einmal nur auf große Hallen.

Wer Entdeckergeist mitbringt und auch als Urlauber einmal unter diese Oberflächen schauen will, der findet dazu in Naturns im unteren Vintschgau reichlich Gelegenheit. Der verkehrsberuhigte Ort kurz neben dem Abzweig zum Schnalstal, in dem man Ötzis Mumie fand, ist seit Jahren bekannt für sein besonderes Wasser, das gegen Rheuma und Gelenkprobleme hilft. Aber darüber hinaus macht er eben genau jene Angebote für Entdeckungsfreudige. Man kommt aus dem Staunen manchmal kaum heraus, wenn man erfahren hat, wie viel Handwerk, Mut und Regelkunst angewandt sein will, bis etwa ein Apfel so ein richtig offizieller Apfel ist.
Das weiß Anja Ladurner, die auf ihrem Hof am Rande von Naturns nicht nur Äpfel verkauft. Sie ist außerdem offizielle Apfelbotschafterin und führt uns durch die schon erwähnten Baumreihen. „Auf Streuobstwiesen standen früher pro Hektar etwa 20 Bäume. Heute sind es zwischen 3000 und 4000“, erklärt sie. Damit das funktioniert, bedarf es nicht nur eines ausgeklügelten Systems, über das die Bäume bewässert oder geschnitten werden. Auch Netze gegen Hagelschlag oder Sonnenschutzfolien müssen präzise zum Einsatz kommen, damit das Obst jene Makellosigkeit erhält, die der Handel fordert. „Vor allem für neue Sorten wie Pink Lady oder Cosmic Crisp wird man sonst nicht zertifiziert“, so Ladurner weiter. Das erklärt, warum die Apfelwirtschaft neben Fleiß und Können auch immer mehr Kapital benötigt, das nur Genossenschaften aufbringen, zu denen sich die Landwirte im Tal zusammenschließen.

Mit dem Geschmack eines supersaftigen „Cosmic Crisp“ im Mund verabschieden wir uns und wandern in die Ortsmitte zu Stephan Christanell. Er ist Metzger in dritter Generation und fertigt noch handwerklich seinen eigenen Speck. Nicht mehr noch wie Vater und Großvater in Kellern auf dem Gelände hinter dem Verkaufsraum an der Hauptstraße, sondern in einer – kleinen – Halle im benachbarten Plaus. „Der Herstellungsprozess ist standardisiert. Nur wer ihm folgt, darf das Produkt Südtiroler Speck nennen“, betont Cristanell. Sein eigener Erfolg liege darin, dass er immer noch von Hand pökele und eine spezielle Gewürzmischung verwende. „Da hat jeder von uns sein Geheimnis“, lacht er. Das Ergebnis überzeugt geschmacklich sofort ...

Begleiten lässt sich es mit Rieslingen oder Weißburgundern, die Rafael und Christine Bürki Hunderte von Metern oberhalb des Ortes scheinbar direkt den Felsen abtrotzen. Nach Stationen in der Schweiz, Geisenheim im Rheingau und Neuseeland hat das Paar 4,7 Hektar von der Familie Messner gepachtet. Reinhold Messners Wohnsitz Castel Juval, nach dem auch das Weingut benannt ist, liegt noch weiter oberhalb an der schmalen Zufahrtsstraße. Wer Weine mag, die den Gaumen nicht herausfordern, ist bei den Bürkis falsch. Für alle jedoch, die es mineralisch schätzen, sind sie ein Fest. Jedes Glas ist ein in Messnerschem Sinn Wein gewordener Blick unter die Oberfläche einer Landschaft.

Im Herbst verbinden sich die Erzeugnisse zum traditionellen „Törggelen“, dem in jedem Ort im Tal ausgiebig gefeierten Erntedank. Das Wort erinnert an die im Lateinischen und somit in der Sprache der Römer, die den Wein mit ins Tal brachten, „torculus“ genannte Weinpresse. Wegen der Feste und des besonderen Wetters gilt der Herbst als besonders lohnenswerte Reisezeit. „Aber auch in den übrigen Monaten kann man wandern, die Therme besuchen, Radtouren machen, Ski fahren und vieles mehr“, betont Uli Stampfer vom Tourismusverband. „Es gibt jeden Tag bei uns etwas Neues zu entdecken, auch weil wir uns immer Neues einfallen lassen“, fährt er fort. Das glauben wir aufs Wort. Und reisen auch als langjährige Südtirol-Fahrer mit anderen Augen nach Hause.
Wissenswertes für Reisende
Anreise: Per Auto über den Reschenpass direkt ins Tal oder über den Brenner bis Bozen und dann auf der Staatsstraße über Meran. Anreise per Zug bis Naturns möglich.
Ausflugstipps:
- Hofschank Brandhof: total uriger Hof auf über 1000 Meter Höhe. Bequemer Wanderweg, an dessen Ende im Hof selbstgemachte Knödel warten.
- Tschirlanderhof: Restaurant im Nachbarort Tschirland, in dem Fischliebhaber, Vegetarier und Veganer auf ihre Kosten kommen
- Schloss Juval: Wohnsitz Reinhold Messners, der sehr private Einblicke in Karriere und Gedankenwelt des Bergsteigers ermöglicht. Erreichbar per steiler Wanderung oder speziellen Sammeltaxis.
- Weintal: Jausenstation am Sonnenberger Panoramapfad. Authentischer Törggelen geht kaum. Man sitzt drinnen oder draußen. Das Essen ist so schmackhaft wie reichhaltig, Verdauungsschnaps wird dringend empfohlen.
Unser Autor ist mit dem Pkw angereist und hat übernachtet im Hotel Belvedere in Naturns. Diese Reise wurde unterstützt vom Tourismusverband Naturns: naturns.com