Dortmund/München (dpa/tmn) – Darüber zu sprechen, gilt als Tabu: Mütter oder Väter, die ihre Entscheidung für Kinder bereuen, fühlen sich oft schuldig und überfordert. Die Wissenschaftlerin Doris Erbe zeigt in ihrer Forschung, warum diese Gefühle entstehen. Buchautorin Wiebke Schenter erzählt, wie sie selbst an ihre Grenzen kam und lernte, wieder Freude am Leben mit Kindern zu finden.
«Regretting Motherhood» – diesen Begriff hat die israelische Soziologin Orna Donath vor zehn Jahren geprägt. Er steht für ein Phänomen, das Mütter und Väter betrifft, aber selten öffentlich thematisiert wird: die Reue, Kinder bekommen zu haben.
«Bereute Elternschaft gilt nach wie vor als tabuisiertes Gefühl, besonders für Mütter», sagt Doris Erbe. Sie ist Professorin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -psychotherapie an der Fachhochschule Dortmund und forscht zu diesem Thema. «Reue beschreibt die subjektive Wahrnehmung vergangener Entscheidungen als Fehler oder verpasste Möglichkeiten», sagt sie.
Eine aktuell von ihr veröffentlichte Studie unter gut 2.000 Frauen und Männern im Durchschnittsalter von 40 Jahren zeigt: Etwa elf Prozent der Befragten in Deutschland würden sich im Rückblick nicht oder eher nicht wieder für Kinder entscheiden. Ähnliche Zahlen gibt es aus Polen und den USA.
Was Elternschaft schwer macht
Bereute Elternschaft ist laut Forschung eng verbunden mit sozialer Überforderung und depressiven Symptomen. Besonders anfällig sind Menschen, die sehr früh – etwa mit 18 bis 22 Jahren – Kinder bekommen haben. «Ihre durchschnittliche Lebenszufriedenheit sinkt», so Erbe. Entscheidend ist ihrer Studie zufolge, in welchem Alter das erste Kind geboren wurde.
Auch psychische Probleme erhöhen das Risiko. Betroffene würden sich oft schwerer tun, ihre Elternrolle auszufüllen, so die Professorin. Eine bestehende Depression kann Reue verstärken, indem sie den Blick auf das Negative lenkt – auf sich selbst, die Zukunft und die Welt. Aber auch ohne Vorerkrankung kann anhaltende Reue eine Abwärtsspirale auslösen. «Schuld- und Schamgefühle können zu starken psychischen Belastungen bis hin zu einer Depression führen», so Erbe, die auch als Psychotherapeutin tätig ist.
«Wer bereut, empfindet oft, keine gute Mutter oder kein guter Vater zu sein und den gesellschaftlichen Ansprüchen nicht zu genügen», sagt sie. Manche wünschen sich ihr altes Leben zurück und bedauern, dass sie für die Kinder zu viel geopfert haben. Ebenso spielen finanzielle Aspekte eine Rolle: Eltern, die unzufrieden mit ihrem Einkommen sind und hohe Kosten der Elternschaft wahrnehmen, äußern häufiger Reue.
«Ich wollte Super-Mama sein – und kam ständig an meine Grenzen»
Wie fühlt es sich an, wenn das Muttersein belastet? Die Buchautorin und Influencerin Wiebke Schenter erinnert sich an den Moment, als sie merkte, dass es so nicht mehr weiterging: «Ich war völlig erschöpft. Ich wollte die perfekte, bedürfnisorientierte Mutter sein, aber ich stieß ständig an meine Grenzen. Es war beängstigend. Ich fragte mich: Was stimmt nicht mit mir?»
Ihre beiden Kinder waren damals noch klein, die Aufgabe erdrückend. «Diese lebenslange Verantwortung, die ständige Angst um die Kinder, die Einschränkungen – das hat mich überfordert. Mein Nervensystem brauchte mehr Ruhe, als ich mir zugestand.»
Gefühle zulassen, Austausch suchen
Wie kommen Eltern aus dieser Spirale heraus? «Der erste Schritt ist, die eigenen Gedanken und Gefühle wahrzunehmen und zu akzeptieren. Verdrängung hilft nicht, im Gegenteil», sagt Erbe. «Der zweite Schritt ist, sich auszutauschen – zum Beispiel mit anderen Eltern oder mit einer vertrauten Person.»
Auch Wiebke Schenter half es, zu ihren Gefühlen zu stehen und sie zu benennen. Der Prozess geht einher mit dem Wieder-Sichtbar-Werden der eigenen Bedürfnisse. Hier helfen Psychotherapeutin Erbe zufolge Antworten auf die Fragen: «Was genau fehlt mir? Was wäre anders, wenn ich keine Kinder hätte? Was vermisse ich aus der Zeit vor der Elternschaft?» Das kann zum Beispiel ein Hobby sein, dass man vernachlässigt hat, oder auch Zeit für die Partnerschaft.
Ob sich alle Bedürfnisse wie aus der Zeit ohne Kinder erfüllen lassen, ist nicht immer gewiss. «Manchmal ist Trauerarbeit nötig», sagt Erbe. Ein Abschied von Lebensweisen und Vorstellungen, die nicht mehr erreichbar sind. «Bei anderen Wünschen stellt sich die Frage: Was davon lässt sich trotz oder gerade mit Kindern verwirklichen?», so die Expertin.
Wiebke Schenter empfiehlt, erst einmal kleine Räume für sich selbst zurückzuerobern: «Es kann schon helfen, einen Filmabend auch mal montags zu machen, nicht nur freitags. Oder Freunde einzuladen, damit sie mit den Kindern spielen, wenn man selbst keine Lust hat.»
Wem es schwerfällt, aus dem Bereuen herauszukommen, sollte sich nicht dem Druck des Mutterideals hingeben, warnt sie. «Es ist wichtig, sich Hilfe zu suchen – bei einer Therapeutin, in Netzwerken oder auch in Online-Communities.» Denn es vergehen oft Jahre, bis Frauen sich eingestehen, dass sie überfordert sind.
Die Liebe zu den Kindern bleibt
Ein Missverständnis, das bereuenden Eltern begegnet ist, dass sie ihre Kinder nicht lieben. Das Gegenteil ist der Fall. «Man liebt seine Kinder, man will mit ihnen zusammenleben – aber ohne daran zu zerbrechen», sagt Schenter.
Doris Erbe lenkt den Blick auch auf das Positive: «Studien der Uni Köln zeigen: Elternschaft steigert nicht unbedingt die Lebenszufriedenheit, wohl aber die Sinnhaftigkeit. Eltern erfahren oft mehr Erfüllung als Kinderlose.» Darauf könne man sich auch dann besinnen, wenn man Reue empfindet. Etwa so: «Ich leiste eine wichtige gesellschaftliche Aufgabe. Vielleicht ist es anders, als ich es mir vorgestellt habe – aber es ist eine sinnvolle und erfüllende Aufgabe, die Anerkennung und Wertschätzung verdient.»
© dpa-infocom, dpa:251126-930-346266/1
