Berlin (dpa) - Die Bemerkungen von Kanzler Friedrich Merz über das «Stadtbild», das Sicherheitsgefühl junger Frauen und Migration wird immer mehr zur Belastungsprobe für die schwarz-rote Koalition. Nach SPD-Generalsekretär Tim Klüssendorf gibt ihm nun auch sein Vizekanzler Lars Klingbeil Kontra: «Ich möchte in einem Land leben, in dem Politik Brücken baut und Gesellschaft zusammenführt, statt mit Sprache zu spalten», hielt der SPD-Chef dem CDU-Vorsitzenden auf einem Gewerkschaftskongress in Hannover entgegen. «Und ich sage euch auch: Ich möchte in einem Land leben, bei dem nicht das Aussehen darüber entscheidet, ob man ins Stadtbild passt oder nicht.»
Man müsse in der Politik «höllisch aufpassen, welche Diskussion wir anstoßen, wenn wir auf einmal wieder in "wir" und "die" unterteilen, in Menschen mit Migrationsgeschichte und ohne». Das heiße nicht, dass es keine Probleme gebe, sagte der Bundesfinanzminister. «Aber ich möchte auch, dass wir begreifen, dass die Vielfalt, die wir heute haben, dass das eine Stärke ist in diesem Land.»
Die Kritik an Merz nimmt damit weiter an Fahrt auf. Linke und Grüne halten dem CDU-Chef Rassismus und AfD-Rhetorik vor, aus der SPD wird Merz seit Tagen attackiert und auch aus der Union melden sich Kritiker zu Wort. Die Demonstrationen als Reaktion auf die Äußerungen des Kanzlers gehen unterdessen weiter. Nach einer Kundgebung in Berlin am Dienstag unter dem Motto «Wir sind die Töchter!» mit mehreren Tausend Teilnehmerinnen und Teilnehmern sind weitere Proteste in Kiel und Köln geplant.
Merz selbst reiste am Mittwoch für drei Tage ins Ausland – erst nach London, zum Westbalkan-Gipfel, danach geht es zum EU-Gipfel nach Brüssel. Am Dienstag wollte er sich in Stuttgart auf Nachfrage nicht mehr zu der von ihm – gewollt oder ungewollt – angestoßenen Debatte äußern. Es sei «deutlich geklärt», was er gemeint habe.
Das Thema dürfte er trotzdem nicht so schnell loswerden. Dafür gibt es mehrere Gründe.
Die Aussage selbst: Noch keine Klarheit
Ausgangspunkt für die Debatte ist eine Aussage des Kanzlers auf einer Pressekonferenz in Potsdam in der vergangenen Woche zur Migrationspolitik. Man korrigiere frühere Versäumnisse und mache Fortschritte, sagte er dort. «Aber wir haben natürlich immer im Stadtbild noch dieses Problem, und deswegen ist der Bundesinnenminister ja auch dabei, jetzt in sehr großem Umfang auch Rückführungen zu ermöglichen und durchzuführen.»
Weil Merz nur angedeutet hat, was für ihn das Problem im Stadtbild ist, lässt er in der Debatte viel Interpretationsspielraum. Das gilt auch für seine Antwort auf eine Nachfrage eines Journalisten auf einer CDU-Pressekonferenz am Montag: «Fragen Sie mal ihre Töchter.»
Dem CDU-Politiker Armin Laschet ist das «zu nebulös». Die Unklarheit dessen, was Merz damit gemeint habe, könnte die AfD für sich nutzen, sagte der frühere Kanzlerkandidat der Union und heutige Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses des Bundestags. Die AfD werde bei der nächsten Bundestagswahl natürlich fragen, ob das «Stadtbild» besser geworden sei.
Merz hätte klarer formulieren können, so Laschet. Es gehe beim Stadtbild nicht nur um Migration. Zum Stadtbild gehörten etwa auch von deutschen Süchtigen weggeworfene Drogenspritzen in Parks, Antisemiten, die Hamas-Parolen brüllten, oder Rechtsradikale, die durch Straßen zögen.
Demos und Petition: «Wir sind die Töchter!»
Merz' Äußerung zu den Töchtern war für die Klima-Aktivistin Luisa Neubauer Anlass, ihre Empörung über Merz mit einem spontanen Aufruf zu einer Demonstration vor der CDU-Zentrale ins Berliner Stadtbild zu tragen. 300 Teilnehmerinnen und Teilnehmer waren angemeldet, zwischen 2.000 (Polizei) und 7.500 kamen. Mit dabei waren auch die Grünen-Co-Fraktionsvorsitzende Katharina Dröge und frühere Grünen-Parteichefin Ricarda Lang. Weitere Demonstrationen sind angemeldet.
Außerdem stieß die Initiative «Radikale Töchter» eine Online-Petition an, die nach Angaben der Plattform innn.it innerhalb von 24 Stunden von etwa 100.000 Menschen unterzeichnet wurde. In dem Aufruf heißt es: «Wir sind die Töchter, die keine Angst vor Vielfalt haben – aber vor Ihrer Politik. Wir sind die Töchter, die sich für Ihren Rassismus nicht einspannen lassen.»
Politische Forderungen: Videoüberwachung und Frauenhäuser
Merz selbst hat sich lediglich für einen weiterhin konsequenten Kurs bei Abschiebungen von Ausländern ohne Bleiberecht ausgesprochen, um das Stadtbild zu verändern. In der Debatte werden nun aber weitere Forderungen ganz unterschiedlicher Art gestellt.
Der CDU-Landeschef in Rheinland-Pfalz, Gordon Schnieder, sprach von «Angsträumen» in den Städten. Er meint damit öffentliche Plätze, über die gerade Frauen nicht mehr alleine bei Dunkelheit laufen möchten, wie er der «Rheinpfalz» sagte. Um das Problem in den Griff zu bekommen, sprach er sich für eine KI-gestützte Videoüberwachung an öffentlichen Plätzen aus.
Linksfraktionschefin Heidi Reichinnek sagte dagegen dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (RND), der gefährlichste Ort für Frauen sei ihr eigenes Zuhause. Ginge es Merz um den Schutz von Frauen vor Gewalt, müsste er die Finanzierung von Frauenhäusern und Beratungsstellen sichern und in Gewaltprävention investieren.
Koalitionsfrieden: Belastungsprobe für Schwarz-Rot
Das größte Problem für Merz dürfte aber die Debatte in seiner Koalition sein, die nach dem holprigen Start mit den Streitigkeiten um die Wahl von Verfassungsrichtern und Strompreissenkungen gerade versucht, wieder in ruhigere Fahrwasser zu kommen.
Einzelne Bundestagsabgeordnete gingen Merz noch deutlich härter an als die Führungsriege der SPD. «Er bedient eine Ausländer-raus-Stimmung, bietet keine Lösungen an und stiftet damit sozialen Unfrieden», sagte der SPD-Außenexperte Ralf Stegner dem «Tagesspiegel». Die Äußerungen von Merz trügen auch «nicht dazu bei, die Stimmung in der Koalition zu verbessern». An der SPD-Basis seien viele «entsetzt über die Worte des Kanzlers».
Auch der SPD-Außenpolitiker Adis Ahmetovic sagte im Magazin «Stern», das Problem sei, dass Merz als Kanzler auch für die Koalition spreche. «Ich will das als SPD-Abgeordneter, zumal als Großstadt-Kind, nicht einfach so stehen lassen.»
© dpa-infocom, dpa:251022-930-191394/4